Ein Junge vom Spreewald geht zur See
Erlebnisse als Schiffsjunge im Jahre 1942
Auszug aus dem Informationsheft Deutsches Schiffahrtmuseum Bremerhaven 2/93
von: © 1993 Hans Wölbing.

Der Wunsch, zur See zu fahren kam mir schon im Kindesalter  - ohne daß ich den Auslöser dafür anzugeben wüßte. Bereits mit acht Jahren las ich Bücher, die von fernen Ländern, Völkern und von der Seefahrt handelten.  Bei der Auswahl der Titel half mir oft Herr Hartwig,  einer meiner Lehrer von der Volksschule in Werben, der auch die örtliche Bücherei betreute.  Beim damaligen Schülerwettbewerb „Seefahrt ist Not“ , an dem ich mich natürlich beteiligte, bekam ich für das Basteln eines Modellschiffes einen Preis des Landkreises Cottbus. Als ich dann aber meine Seefahrerwünsche der Berufsberatung des Arbeitsamtes Cottbus vortrug, stieß ich auf rigorose Ablehnung. Nun denn, es gab auch andere Wege. So schrieb ich, mangels einer genauen Adresse an das Seemannsamt Hamburg und bat um Hilfe. Dort hatte offensichtlich jemand ein Herz für mich. Denn kurze Zeit darauf bekam ich ein Schreiben von der „ Zentralstelle für Vorausbildung und Berufslehre in der Seeschiffahrt mit der Aufforderung, vorgegebene Bewerbungsunterlagen und den Nachweis der deutschen Staatsbürgerschaft einzureichen. Meine Eltern waren von der Ernsthaftigkeit meiner Absicht zur See zu fahren  zunächst überrascht. War es für sie doch beschlossene Sache gewesen, daß ich wie mein Vater Schornsteinfeger werden würde. Nachdem mein Vater mit der „Zentralstelle“ einige Bedenken abgeklärt hatte, bekam ich seine Einwilligung und Unterschrift für den auf drei Jahre festgelegten Lehrvertrag zum Matrosen in der deutschen Handelsmarine.
Schon bald nach meiner Schulentlassung im Frühjahr 1942, im stolzen Alter von 14 Jahren, kam dann die Einberufung zur Schiffsjungenschule STETTIN in Ziegenort. (siehe Foto oben)  Dort begann jede Woche ein Ausbildungskursus mit bis zu 20 Teilnehmern und einem Bootsmann als Lehrer. Jeweils im Wochenabstand liefen vier Kurse gleichzeitig. Untergebracht waren wir in einem großen Schlafsaal  im Obergeschoß des Schulgebäudes. Der Tag begann , nach dem obligaten Reinschiff, mit dem allmorgendlichen Antreten  in Dreierreihen, exakt auf den Vordermann ausgerichtet, vor der Schule zur Flaggenparade und Musterung durch den Schulleiter, Kapitän Kurowsky, oder dem 1. Offizier.Nach diesem militärisch anmutendem Aufmarsch begann dann der eigentliche Lehrbetrieb: Unterricht in Theorie und Prasxis.

Die Schiffsjungenschule "Stettin" in Ziegenort

Zu den Lerninhalten gehörten das Auswendiglernen der Einteilung der Kompaßrose in Viertelstrichen ebenso wie deren rechnerische Umsetzung in die Gradeinteilung - eine ganz gemeine Form der Bruchrechnung. Magnetismuslehre, Luken- und Ladegeschirr sowie Schiffs- und Maschinenkunde. Die Vermittlung von Kenntnissen über die Takelung von Seeschiffen sowie der Lichterführung und Ausweichregeln in der Seeschiffahrt.  Flaggen-, Länder- und Meereskunde. Bootsdienst, d.h. Umgang mit Rettungsbooten - inklusive Blasen an den Händen. Lernen und Üben in Lichtmorsen und Winken. Tauwerksarbeiten mit Knoten und Spleißen. Als Unterrichtsleitfaden diente das Lehrbuch „Decksarbeit“ .
Freizeit war ein Fremdwort. Dafür gab es „Landgang“. Jeden Sonntag  marschierten wir in geschlossener Formation, natürlich im Gleichschritt und singend , ins örtliche Kino und in gleicher Weise wieder zurück. Ansonsten war das Verlassen der Schule verboten. Wer dabei erwischt wurde, konnte umgehend nach Hause fahren.
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Eignungsnachweis für Hans Wölbing 
und Zeugnis über die Teilnahme am Signalkursus
Nach Beendigung des Kurses mit abschließender Prüfung in Seemannschaft und Signaldienst, wurde ich mit noch weiteren drei Jungen vom gleichen Kursus, jeder 14 Jahre alt, per Bahn nach Danzig geschickt. In Neufahrwasser, gegenüber der Westerplatte, lag ein Viermastgaffelschoner - unser Schiff! Lärmend stürmten wir über die Gangway an Deck der NORDWIND, deren Verschanzung mit längslaufender Nagelbank so hoch ragte, daß wir kaum hinübersehen konnten.
Der drahtige Bootsmann - im Rentenalter - mit einem goldenen Ring am Ohr, schaute uns verdutzt und ungläubig an und schickte uns dann, nachdem er uns in das Logis eingewiesen hatte zum Achterdeck. Dort erwartete uns ein stattlicher Zivilist, der Kapitän. Vor dem bauten wir uns in einer Reihe in strammer Haltung auf und meldeten uns zum Dienstantritt an Bord. Richard Peytsch aus Bremen -  ehemaliger Seeoffizier der Kaiserlichen Marine und Kapitän auf großer Fahrt - betrachtete uns erst ganz belustigt. Doch dann, nach der Begrüßung, gab er uns zu verstehen, daß so ein martialisches Getue auf Handelsschiffen nicht üblich sei und wir uns ganz locker  wie normale Menschen und nicht wie Zinnsoldaten benehmen sollten.
In dem folgenden Gespräch erfuhren wir auch, daß unser Schiff eine Kriegsbeute war und vorher unter sowjetischer Flagge mit einer estnischen Mannschaft gefahren war. Der Name war MERILIND gewesen. Jetzt sollte das Schiff mit einer deutschen Besatzung erneut in Fahrt gebracht werden. Das war, wie wir erfuhren, im dritten Kriegsjahr wegen fehlendem Personals ein Problem. Fast alle wehrfähigen  Männer waren jetzt Soldaten, so daß für die Handelsschiffahrt auch auf alte Seeleute und ganz junge Burschen, wie uns, zurückgegriffen werden mußte. Es wurde erwartet, daß wir Schiffsjungen wie Vollmatrosen auf einem besegelten Frachtschiff auch unseren Mann standen.
Nach dieser für uns erstaunlichen Eröffnung, mußten wir erst einmal zum Seemannsamt. Nachdem jeder von uns ein nagelneues Seefahrtsbuch bekommen und  die Musterrolle unterschrieben hatte, waren wir nun auch amtlich Besatzungsmitglieder der sehr betagten, noch ganz aus massiven Eichenholz gebauten NORDWIND. So nahmen wir uns vor, da es sich um ein hölzernes Schiff handelte, eiserne Seeleute zu werden.
Wieder an Bod, nahm uns gleich der Bootsmann in seine Obhut. Dieser alte Seebär, ein versierter Fachmann und  Lehrmeister, war wie ein Vater zu uns. Leicht hatte er es mit uns, dem Kindergarten - wie er zu sagen pflegte - nicht  Jeder Handgriff mußte von ihm vorgemacht, erklärt und von uns gleich in praktische Seemannschaft umgesetzt und gekonnt  werden. Dabei war er immer und überall stets um unsere Sicherheit besorgt. Als äußerst lästig empfanden wir es nur, daß wir über alles Buch führen mußten. Dieses Ausbildungsberichtsheft wurde dann wöchentlich vom Kapitän abgezeichnet. Eines Abends geschah etwas ganz gräßliches. Wir mußten nach Dienstschluß unter Anleitung des Bootsmanns unsere Wäsche und Arbeitskleidung selber waschen. Zuhause hatte Muttern dafür gesorgt. Das war nun vorbei. Nach einer Woche ungewohnt harter Arbeit, war das Schiff seeklar und es hieß „Leinen los“. Die Fahrt währte aber nur kurz: von Danzig nach Gotenhaufen (heute Gdynia), also etwa zehn Seemeilen. Die Distanz reichte aber, mir als erstem von uns die hohe Kunst des Steuerns eines Schiffes nach Kompaß und Seezeichen beizubringen.
In Gotenhafen wurde Fracht übernommen. Außerdem bekamen wir noch zwei Jungen von Ziegenort dazu, so daß wir nun mit sechs Decksjungen und einem alten Bootsmann an Deck komplett waren. Dann kam der große Augenblick: wir liefen zu unserer ersten  Seereise aus. Doch die rechte Hochstimmung wollte nicht aufkommen. Zu anstrengend waren die vorangegangenen Tage gewesen - und dann erstmalig auf See! Kein fester Boden unter den Füßen. Alles bewegte sich, nur meine Beine nicht. Zudem war mir nach einiger Zeit hundeelend. Während des ersten richtigen Rudertörns in meinem Leben klammerte ich mich an das durch den Seegang heftig ruckende Steuerrad und bemühte mich, das Schiff auf Kurs zu halten. Das Abendessen war mir schon vorher aus dem Gesicht gefallen und nun verursachte der Petroleumgestank der Kompaßbeleuchtung  weitere Übelkeit. So hatte ich mir die Seefahrt eigentlich nicht vorgestellt.   Aber da muß man eben durch.
In der folgenden Zeit fuhren wir alle mögllichen Frachten von und zu den Häfen Rönne, Libau, Windau, Riga und Gotenhafen. Kapitän Peytsch, vor dem Krieg auf weltweiter Fahrt, nannte unsere Seefahrt scherzhaft „Güternahverker“. Manchmal gestaltete sich die Übernahme bzw. das Löschen der Ladung etwas umständlich, wenn von Landseite keine Kräne zur Verfügung standen. Dann mußte mit bordeigenem Geschirr gearbeitet werden. Dazu wurden die Segel unter die Gaffeln gezurrt, der jeweilige Großsegelbaum aufgetoppt und zum Ladebaum umfunktioniert. Die zugehörigen Ladewinden, mit denen wir auch die Segel setzten, wurden durch einzylindrige Glühkopfmotore angetrieben. Die Kreuzmastwinsch zu bedienen war meine Aufgabe.Von den halbverhungerten sowjetischen Kriegsgefangenen, die oft als Ladungsarbeiter eingesetzt waren, konnte diese Tätigkeit nicht erwartet werden. Den ganzen Tag neben so einem höllisch knatternden Ungetüm zu stehen - einkuppeln, hieven, stoppen, bremsen, auskuppeln, den Baum geien, umkuppeln, fieren, stoppen - schrecklich...
Einmal vergaß ich beim Umkuppeln  auf die Bremse zu treten. In der Folge  rauschte die am Haken hängende Palette, ausgerechnet mit Wasserbomben darauf, wieder nach unten auf den Plattenwagen. Alles ging in Deckung. Nur der aufsichtführende Obermaat der Kriegsmarine stand breitbeinig da und schaute mich nur kopfschüttelnd an. -  Aber von meinem Posten entbunden wurde ich jedoch nicht. -
Skizze der "Nordwind"
Mit aufgetoppten Kreuzmastladebäumen
(Aus dem Gedächtnis gezeichnet von Hans Wölbing)
Nach mehr als vier Monaten an Bord waren wir überzeugt, auch mit den bevorstehenden Winterstürmen fertig zu werden. Bisher hatten wir wohl guten Wind, aber kein sogenanntes schweres Wetter gehabt. Doch unsere gewachsene Seefertigkeit auf diesem Schiff zu beweisen, bekamen wir keine Gelegenheit mehr. In einer Nacht im Oktober 1942, wir befanden uns auf der Reise nach Riga querab von Kap Domesnäss, war ich auf Auskuck. In einem mir mehrere Nummern zu großen Wachgängermantel gehüllt, stand ich fröstelnd auf der Back  - den Rücken gegen das Gangspill gstemmt - und starrte in die Dunkelheit. In die gewohnte Begleitmusik, das Jaulen des Windes in der Takelage und das klatschende Rauschen der Bugwelle mischte sich mit einem Mal das Tosen von sich brechenden Wellen. Diese Brandungsgeräusche zu melden drehte ich mich um und sang die Wahrnehmung aus. Da wurde ich auch schon an Deck geschleudert. Ein fürchterliches Krachen und Knirschen unter  mir, peitschendes Singen in der Takelage, das Schiff krängte leicht über und machte keine Fahrt mehr. Wir waren auf ein Riff  gelaufen und saßen mit dem Vorschiff auf Unterwasserfelsen fest. Die Gischt der Brandung  kam  über die Back. Da kam auch schon der Befehl an mich  meinen Posten zu verlassen und die Freiwache an Deck zu holen. Doch die Jungs waren bereits von allein ´rausgekommen. Denn es war ja nicht bei diesem einmaligen Bummser geblieben. Mit jeder anlaufenden See wurde unser Schiff angehoben und  krachend wieder auf das Riff gesetzt. Jedesmal ging ein Höllenlärm durch Schiff und Takelage. Nachdem wir mühevoll alles noch Bewegliche an Deck und in den Masten festgezurrt hatten, versammelten wir uns auf dem Achterdeck. In dem langsam aufdämmernden Morgen konnten wir in einigen Meilen den dem Kap vorgelagerten Leuchturm Kolgasrags - der während des Krieges unbefeuert war - ausmachen. Offenbar ist unsere Strandung von der Küstenwache bemerkt und gemeldet worden denn ein lettischer Bergungsschlepper hielt auf uns zu, blieb aber dann in etwa einer Seemeile entfernt von uns  beigedreht liegen.
In dem dann folgenden Signalverkehr mit der Morselampe wurde uns mitgeteilt, daß ein Abbergen vom Riff nicht möglich sei, da dann der Schlepper selbst in Gefahr geraten würde aufzulaufen. Da sich die Anzeichen mehrten, daß unser Schiff auseinanderbrechen würde, gab Kapitän Peytsch die Order unser Rettungsboot auszusetzen und die NORDWIND zu verlassen. Also, da das Boot nicht in Davids hing, mußte erst einmal der Besanbaum aufgetoppt und das Boot angehievt werden.  Dann von der Luvseite an Steuerbord nach Lee zur Backbordseite und außenbords gegeit (geschwenkt) werden, und dann zu Wasser damit. Und das alles mit Muskelkraft - ohne Glühkopfmotor! In das neben der Bordwand auf- und niedertanzende Boot sprang nun einer nach dem anderen hinein, zuletzt der Kapitän. Das war der Ernstfall, für den wir in Ziegenort beim Bootsdienst gedrillt worden waren: Setz´ab, Fangleine los, klar bei Riemen und ruder´an. Weg vom Schiff und ´raus aus der Brandung.
Nach fast einer Stunde erreichten wir, pudelnaß, durchgefroren und am Ende unserer Kräfte den Bergungsdampfer. Nachdem man uns an Bordgeholt hatte, Klamotten ausziehen, heiße Brühe trinken und schlafen. Später übernahm uns ein Räumboot der Kriegsmarine und brachte uns nach Riga. Für einige Tage waren wir in einem  Soldatenheim untergebracht. Verpflegt wurden wir im nobelsten Restaurant der Stadt. Allerdings hinter einer aus Garderobenständern  aufgestellten Abschirmung.
Auf dem Lloyddampfer ROBERT MÖHRING mit Hunderten verwundeter Soldaten von der Ostfront im Zwischendeck fuhren wir nach Danzig. Unterwegs sprach mich der Bootsmann dieses Schiffes an, ob ich nicht an Bord bleiben wolle. So verlockend dieses Angebot auch war, zur Erlangung eines Offizierspatentes war damals noch eine Segelschiffsfahrzeit von 20 Monaten vorgeschrieben und die wollte ich doch zuerst hinter mich bringen.
In Danzig gab es noch Formalitäten zu erledigen. Wie die Abmusterung, die Auszahlung der Restheuer sowie Bezugsscheine für die verlorene Ausrüstung. Dann fuhr ich, um die Vermittlung auf ein anderes Schiff abzuwarten erst einmal nach Hause in den Spreewald.
Im vollbesetzten Fern-D-Zug der Reichsbahn aus Dirschau fand ich gerade noch einen Platz. Die Mitreisenden  im Abteil musterten mich, den Jungen mit dem zusammengerollten Wachgängermantel unter dem Arm als einzigem Gepäck ziemlich betreten. Es dauerte auch nicht lange, da erschien ein Feldgendarm von der militärischen Zugbegleitung und verlangte meine Papiere. Nachdem er diese geprüft und meine Geschichte gehört hatte, brach von Seiten der Mitreisenden eine Welle von Freundlichkeit über mich herein, die mir noch unheimlicher war, als die vorangegangene Ablehnung. Sogar eine Tafel Schokolade bekam ich geschenkt. Und schon wieder ein Stellenangebot: dieses Mal als Gehilfe an einer Segelsportschule in Bayern. Das ging natürlich auch nicht.
Von der ehemaligen Besatzung der NORDWIND habe ich im Nachkriegswinter 1945 Kapitän Richard Peytsch in Bremen wieder getroffen. Obwohl selbst ausgebombt und in einer Notwohnung lebend, gab er mir, dem einsamen Jungen aus dem Spreewald, ein neues Zuhause .
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Version 11-Oct-99 / Rev.: 11-Jun-11 / HBu