Weihnachten an Bord

Es war noch schlimmer! Um aber nicht den Verdacht der Übertreibung zu erwecken wurde es so aufgeschrieben, wie es hier zu lesen ist. Von (©) W. Schifferdecker
Die Überreise von New York nach Le Havre war schon  ein Horror. 
Wind von achtern und nur grüne See. Achterbahn-Fahren zum Nulltarif. Le Havre. Endlich mal an Land… zum Telefonieren und Kuchen-Essen. Dann Antwerpen, Rotterdam, Hamburg, Bremerhaven. Am 23.12. Die restlichen Container wurden stehen gelassen, damit man nicht über Weihnachten in Bremerhaven liegen bleiben musste (Seemannsgesetz). Die Stimmung war entsprechend. Schnell noch die Familien informiert und Abschied genommen.

Der Koch  begann mit den Vorbereitungen 

für das dann bekannte Festmenü. Doppelte Ration!  Der Alte  (der Mann mit den vier Streifen),  wenn man ihn zu Gesicht bekam, lief rum wie Falschgeld. Indirekt fühlte er sich für die Situation verantwortlich. Am 24. Dezember abends, irgendwo in der Deutschen Bucht, alle im besten Zeug im Salon. Festlich gedeckt. 

Dann die Festrede. Neun umwerfende  Worte:

„Ich wünsche Allen ein frohes Weihnachtsfest und guten Appetit“.

Brummiges Gemurmel, kein klares Erwidern. Schnell war aufgedeckt, die Schlingerleisten an den Tischen natürlich nicht ausgebracht. Das Schiff fuhr bergauf, verharrte und mit einem gewaltigen Schlag tauchte das Vorschiff ein. Steuerbord und backbord nur grüne See und pickedüster. 36 Gedecke waren auf einmal abgeräumt, die Finkenwärder Gemüseplatte verteilte sich mit der braunen Soße und den Gänseteilen auf dem Fußboden und schwappte vermengt mit dem zugefügten Bier aus  der Ecke des brummigen Gemurmels.

 „In einer Stunde gibt es Hühnerbrühe“!

Beim Aufräumen waren alle dabei, man brauchte ja nur warten, bis es auf einen zukam. Die Stühle waren wenigstens am Fußboden gelascht. Dann der nächste Brecher, sekundenlang Ruhe, wie wenn alles vorbei war, Maschine nicht mehr zu hören. Nur ein Tosen und Pfeifen draußen und dann wieder ein heftiges Eintauchen, alles zittert und bebt, wieder fällt irgendwo was runter, kracht eine Tür gegen das Schott und dann ins Schloß. Rutscht irgendwas fast endlos über den Boden. Dann dreht die Maschine langsamer, aber es hört einfach nicht auf. Dann werden die Stabilisatoren eingeholt, weil die dieser Gewalt nicht standhalten. Der Assi der die Technik bedienen musste, fing ein neues Leben an.
Jetzt braucht man schon zwei Arme  und kräftige Beine, um all die Bewegungen abzufedern. Schlafen ein Kunststück, entweder drückt der Körper auf den Hals oder man stemmt sich gegen das Rausrollen. Die Kameraden auf der Brücke, in der Maschine und an den übrigen Arbeitsplätzen sind gereizt. Die Schreibmaschine spielt verrückt, beim Überholen rollt der Wagen bis zum Klingeln auf die Seite. Bis man den letzten Buchstaben gefunden hat, rollt der „Wurstwagen“ wieder zur anderen Seite.

Nach fast drei Tagen endlich in Greenock / Schottland. 

Aber da bläst es so schlimm, dass die Container so verwehen, dass nicht geladen werden kann. Nicht so schlimm, ist ja nur Whisky für USA! Die Mooring-Winden können das Schiff kaum halten. Zwei Drähte knallen weg. Ein Geräusch das keiner vergisst. Nach sieben Stunden wieder weg. Es hätte sich keiner vorstellen können, was dann vor uns lag. Erst mal stramm nördliche Kurse, dann das ganze Vorschiff dick vereist. Decca Navigations-Anlage ausgefallen, Sicht fast Null und immer noch Rollen und Krängen. Das Schiff ächzte in seinen Verbänden. Ladung in den Kisten wurde hörbar und auch nachher sichtbar.
Jedes mögliche Tief war unseres. Und immer noch grüne See, selbst in  Brückenhöhe. Die Decca-Anlage geht endlich wieder. Alles feucht gewesen in der Mechanik. Nun auf einmal Eisberg-Meldungen. Sind wir eigentlich noch da, wo wir sein wollen?  Immer noch Schlechtwetter und Gefühle. Bei allen gleich schlimm.
Aber alle hielten zusammen und das ganz dicht. “Willst Du auch eine halbe Tasse Kaffee?“ „Trink aber schnell aus, sonst, hast Du sie im Gesicht“. Die Leute am Radar scheinen schon mit dem Kopf den Peilstrahl zu verfolgen. „Wem soll ich was zum Essen mitbringen?“. „Ich löse Dich mal zwischendurch ab“. Ich glaube das war’s. Und dafür lohnte es sich.
Manchmal sagte einer  im Brückenhaus: „Was habe ich nur verbrochen, dass ich das alles erleben muss.“  Er sagte es mehrmals am Tag und  die zehn folgenden. 

New York musste ausgelassen werden, weil zu spät. 

Ankunft Philadelphia am 31.12. 22.48. Immigration, Zoll. Alles O.K. der Fleischraum, der Getränkestore versiegelt. Letzte Anordnung: „Es wird kein Feuerwerk abgebrannt“. Wir hätten es auch nicht mehr beobachten können.

Damit ich es nicht vergesse: Vor Anfang der Reise hatten wir in Rotterdam im Hafen die Schraube verloren. Vierzehnmal „Voraus“, vierzehnmal „Zurück“. Ich hab das Brückenbuch geschrieben. Der Lotse hatte an dem Tag das Programm „Voll“ im Kopf und das vorwärts und rückwärts. Um 04.54 endlich fest. 
Die Reserveschraube hatte man in Hamburg an Land gesetzt. Da konnte man ja noch zwei Container hinstellen. Erste Anordnung im Dock: „Keine Ehefrauen kommen lassen, keine Fahrt nach Hause. Wir fahren in drei Tagen weiter“. Es wurden dann zehn Tage Trockendock. Von den vielen Freuden, die einem Seemann zu Teil werden können,  ist dies eine der schönsten: Nutzungsverbot der sanitären Anlagen. Toilettenhäuschenähnliche Behälter mit Fenster und Tür, die mehr Öffnungen haben als Sicht-und Wetterschutz, hängen an der Dockwand, sind über  abenteuerliche Gangways zu erklimmen, erfordern  physische Besonderheiten bei den erforderlichen Verrichtungen, sonst kann der oder die Betroffene nur noch steifgefroren abgeborgen werden. Für mitreisende Ehefrauen eine besondere, lebenslang andauernde Erinnerung. Ratschlag damals: „Fahr lieber mit dem Bus zum Kaufhaus BIENENKORB“.
Zu den ähnlich traumatischen  Erlebnissen der Frauen zählt das „Entern“ über die Lotsentreppe eines an den Pfählen im Strom festgemachten Schiffes im Hamburger  Hafen. Im engen Rock und aus der vollbesetzten  Barkasse. Die Barkasse stoppt natürlich bis der Vorgang abgeschlossen ist. Manche hat es sich dann anders überlegt. Nach ein paar Monaten Trennung eine schwerwiegende Entscheidung.

Nächstes Weihnachten  fährt man bestimmt  in der Karibik. Bei 35° Plus, Gänsebraten und Rotkohl auf dem Bootsdeck und aus dem Akai-Leierkasten des Kapitäns gibt es Bachkantaten als kulturelle Hintergrundmusik. Natürlich gehört dazu, dass mit den alkoholhaltigen Getränken, dem festlichen Anlass entsprechend, umgegangen wird. Schließlich sind ja auch Passagiere an Bord. Aber was nutzt es, wenn oh Wunder in den Weihnachtsüberraschungen der Patenstadt eine Flasche Kognak und eine Flasche Champagner sorgsam eingepackt sind. Sechs Mann fehlen. Sie haben das Festessen  (auch hier doppelte Ration) verpasst.  Die sitzen hoch und trocken auf einer Barre (Sandbank) im Rettungsboot, welches sie vom sogenannten Weihnachtseinkauf  in einem Eingeborenendorf an Bord zurückbringen sollte.

Jeder Seemann ein Artist, zwei ein Zirkus.
Aus dem Leben des Seemanns Wilhelm S. 
Dezember 2011


Quellennachweis:
Urheber gem.§7 Urh.G.  (©): W. Schifferdecker  (Mit freundl.Genehmigung 23-Dec -11)
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Version: 23-Dec-11 / HBu