Oktober 2006: 100 Jahre SOS

Am wohl ersten Seenotfall der mit Hilfe der drahtlosen Telegrafie abgewickelt wurde, war ein deutsches Schiff beteiligt. Das Segelschiff „Elbe“ war bei stürmischem Wetter auf dem Weg von Nantes nach Hamburg, als es am 17. März 1899 bei den Goodwin Sands in der Nordsee auf Grund lief. Wenige Monate zuvor war auf dem Feuerschiff „East Goodwin“ eine Marconi-Station installiert worden. Dort hatte man die Strandung der „Elbe“ beobachtet und sandte ein Telegramm zum ebenfalls bereits mit Funk ausgerüsteten Leuchtturm „South Foreland“ von wo aus in Ramsgate ein Schlepper alarmiert wurde. Mit dessen Hilfe konnte die „Elbe“ einige Stunden später wieder flott gemacht werden. Nur sechs Wochen später, am 28. April 1899, wurde das Feuerschiff „East Goodwin“ Opfer einer Kollision. Der englische Dampfer „R.F. Matthews“ war mit einer Ladung Kohle unterwegs von Newcastle nach Genua und rammte das Feuerschiff. Man rief erneut „South Foreland Lighthouse“ und berichtete: „We have just been run into by the steamer R.F. Matthew of London. Steamship is standing by us. Our bows very badly damaged“

Als der Lloyddampfer „Kaiser Wilhelm der Grosse“ 1900 als erstes Handelsschiff der Welt mit einer Funkenstation (System Marconi) ausgerüstet wurde, hatte man also bereits erkannt, dass die neue Technik nicht nur ein schönes Spielzeug für die Passagiere an Bord der Luxusliner ist, sondern durch schnellen Nachrichtenaustausch im Seenotfall auch Hilfe herbeigeholt werden kann. Je mehr Schiffe mit Funkensendern ausgerüstet wurden, desto mehr erkannte man aber auch, dass das neue Medium grenzüberschreitende Wirkung hat und es daher einer internationalen Norm bedurfte. 
Marconi versuchte seine Rechte und Patente dadurch zu wahren, dass er seinen Funkern verbot, mit Anlagen anderer Hersteller zu kommunizieren –  natürlich ein Hemmschuh in Sachen Forschung, Entwicklung, Nachrichtenaustausch und sogar im für die Seefahrt elementarsten Bereich: dem Seenotfall. 

Die Station auf dem deutschen Feuerschiff "Borkumriff" hatte der Norddeutsche Lloyd von der Marconi-Gesellschaft gemietet, den Funkdienst versahen der deutsche Kapitän und sein Erster Offizier. Die Station auf Borkum hatte die deutsche Wasser- und Schiffahrtsverwaltung von der Marconi-Gesellschaft gekauft, sie wurde von deutschen Telegrafenbeamten bedient und stand unter der Oberhoheit der Reichspost- und Telegrafenverwaltung. Es gehört ins Reich der Fabeln, dass dem deutschen Kaiser durch die (deutsche) Marconi-Station auf Borkum die Annahme eines Telegramms verweigert worden sei. Niemand in der oben geschilderten Hirarchie hätte seinem obersten Dienstherrn so die Stirn geboten. Dieser Geschichte zufolge ordnete Wilhelm II aber wutentbrannt – in einer Bremer Tageszeitung fand ich das Wort „Tobsuchtsanfall“ – den Bau einer eigenen Küstenfunkstelle (das spätere Norddeich Radio) an und veranlasste eine internationale Funkkonferenz. Eine Geschichte also, eine schöne Geschichte sogar! So schön, dass sie sich nicht verdrängen lässt! Erstmals erwähnt wird sie in den 50er Jahren in den Memoiren von Hans Bredow, dem ersten Direktor der Telefunken Gesellschaft.

Auf deutschen Vorschlag und Einladung hin - die Deutschen hatten erstens eine große Handelsflotte und zweitens wollten sie natürlich Ihre eigene Funkindustrie ins Geschäft bringen und Marconi nicht das Funkmonopol (Stichwort: "Marconismus") überlassen - wurde für den 4. August 1903 eine Internationale Funk-Vorkonferenz nach Berlin einberufen.

Teilnehmer der Vorkonferenz im August 1903 während eines Ausflugs zur Baustelle in Nauen
Auf dieser Konferenz wurde erstmals auch über ein internationales Notzeichen verhandelt:
Ein britischer Vorschlag lautete „CQD“. Zusammengesetzt aus dem CQ für Anrufe „an Alle“ – üblich bei der amerikanischen Eisenbahn-Telegrafie - und dem Zusatz D für das englische Wort für Seenot: „distress“. 
Die amerikanischen Delegierten schlugen das Notsignal aus dem internationalen Flaggencode vor: „NC“. Diese Kombination hätte sicher auch ein sehr markantes Morsesignal abgegeben.
Die italienischen Delegierten meinten, „SSSDDD“ sei das richtige Signal.
Aus Deutschland kam der Vorschlag „SOS“. Man war zunächst für „SOE“, einem Ankündigungszeichen aus dem deutschen Flaggen-Handbuch, kam dann aber zu der Überzeugung, dass der letzte Buchstabe des Signals im Morsecode zu kurz und die Übermittlung damit nicht sicher genug sei. Man ersetzte das „E“ durch ein weiteres „S“.
Die Delegierten der Vorkonferenz konnten sich auf keinen der Vorschläge einigen und überliessen die Entscheidung der noch einzuberufenden „Großen Internationalen Funkkonferenz“.

Marconi schuf am 1. Februar 1904 mit folgender Anordnung für seine Gesellschaft jedoch Tatsachen:

THE MARCONI INTERNATIONAL MARINE COMMUNICATION COMPANY, LIMITED
CIRCULAR  No.  57
It has been brought to our notice that the call "C.Q." (All Stations), while being satisfactory for general purposes, does not sufficiently express the urgency required in a signal of distress. 
Therefore, on and after the 1st February, 1904, the call to be given by ships in distress or in any way requiring assistance shall be "C.Q.D." 
This signal must on no account be used except by order of the Captain of the ship in distress, or other vessels or stations retransmitting the signal on account of the ship in distress. 
All stations must recognise the urgency of this call and make every effort to establish satisfactory communication with the least possible delay. 
Any mis-use of the call will result in the instant dismissal of the person improperly employing it.
THE MARCONI INTERNATIONAL MARINE COMMUNICATION COMPANY, LIMITED, 
 18, Finch Lane, London, E.C.,  7th January, 1904. 

Deutschland folgte am 30. März 1905 mit der „Regelung  der  Funkentelegraphie  im  Deutschen  Reich“ , in der es unter Anderem heisst:

4.  Verfahren
a)  Beförderungszeichen
Zur Anwendung kommen die bekannten Morsezeichen, denen folgende Signale hinzugefügt sind 
------Ruhezeichen; darf nur von öffentlichen Küstenstationen gegeben werden; 
...---...Notzeichen; wird von einem Schiffe in Not solange wiederholt, bis alle anderen Stationen ihren Verkehr abgebrochen haben; 
...---.Suchzeichen; darf von Schiffen auf hoher See wiederholt mit ihren eigenen Namen, die dem Zeichen folgen müssen, gegeben werden; es ist zu beantworten durch "hier" mit nachfolgenden Namen.
Teilnehmer der Vorkonferenz im August 1903 im Sitzungssaal
Nach mehreren Verschiebungen – einer der Gründe war der Russisch-Japanische Krieg 1904/1905 – begann vor 100 Jahren, am 3. Oktober 1906 die 1. Große Internationale Funkkonferenz in Berlin mit 139 Teilnehmern aus 29 Ländern. Während dieser bis zum 2. November 1906 dauernden Konferenz wurde unter vielen anderen diese für den Seenotfunk sehr wichtige Entscheidungen getroffen:

Das internationale Seenotzeichen für die drahtlose Telegrafie lautet  SOS

Diese Festlegungen behielt bis zum Ende des terrestrischen Seefunks am 1. Februar 1999 ihre Gültigkeit.

Bis zur endgüligen Umsetzung der Konferenzbeschlüsse dauerte es noch einige Zeit. Die USA genehmigten 1908 den Gebrauch des  SOS , aber das  CQD  geisterte noch lange durch den „Äther“ - besonders auf britischen Schiffen. Als erste internationale Nutzung des neuen Zeichens ist der Seenotfall der englischen „Slavonia“ vermerkt. Der Cunard-Liner war am 10. Juni 1909 an der Azoreninsel Flores gestrandet und nach seinem  SOS  wurden alle Personen an Bord von den deutschen Schiffen „Prinzess Irene“ und „Batavia“ gerettet. 
Knapp sechs Monate vorher, im Januar 1909, hatte der englische White-Star-Dampfer „Republic“ nach einer Kollision mit dem Italiener „Florida“ noch  CQD  gefunkt. Auch hier wurden alle 1500 betroffenen Personen von der zur Hilfe gekommenen „Baltic“ gerettet. Beim Funkverkehr während des Untergangs der „Titanic“/MGY im April 1912 wurden um 11:20 p.m. SOS und CQD  benutzt, danach bis 00:28 a.m. nur noch CQD. Jeder kennt die Filmszene, in der der Captain Smith den Funker anweist: CQD! Phillips, send CQD !

Auf der zweiten internationalen Funkkonferenz im Sommer 1912 in London wurde – noch ganz unter dem Eindruck des „Titanic“-Desasters und der Rolle die die Funkentelegrafie dabei gespielt hatte – endgültig und verbindlich vereinbart: 
dass Seenotrufe auf der Wellenlänge 600 m (500 kHz) gesendet werden müssen
dass die Seenotpausen in den 3 Minuten nach der 15. und der 45. Minute jeder Stunde beobachtet werden müssen
dass Seenot-Funkverkehr unbedingten Vorrang haben muss
dass Funkverkehr und Nachrichtenaustausch zwischen allen Funksystem stattfinden können muss
dass die Funkstationen zu bestimmten Zeiten besetzt sein müssen und erneut 
dass  das internationale Seenotzeichen SOS lautet.

Lands End Radio / GLD war 31. Dezember 1997 die letzte englische Station die einen SOS-Fall abwickelte. Die „Oak“/C6MX8 hatte Glück, die Meldung wurde gehört und das Schiff nach Liverpool geschleppt. Am nächsten Tag, dem 1. Januar 1998, wurde der Telegrafiebetrieb bei den englischen Küstenfunkstellen eingestellt! GLD war einst auch die erste englische Funkstelle, die ein SOS aufnahm: 1910 verwendete das Schiff „Minihaha“/MMA das markante Zeichen, als es einen Notruf an GLD – damals hiess die Station noch Lizard Radio – absetzte.

Diesem Aufsatz ist zu entnehmen, dass  SOS  nicht für Abkürzungen wie „Save our Souls“ oder „Save our Ship“ steht, genauso wenig wie  CQD  für „Come quick Danger“. Diese Auslegungen wurden später in die Notzeichen hinein gedeutet. Die damals vorgeschlagenen Zeichen sollten einzig und allein in ihrer Zusammenstellung ein markantes und unüberhörbares Signal bilden. Im Nachhinein lässt sich heute sagen, dass man mit  SOS  eine gute Wahl getroffen hat. 
Als Seenotzeichen hat die Buchstabenkombination seine Aufgabe hervorragend erfüllt und bei mir jedes Mal ungläubiges Staunen darüber ausgelöst, dass ich es aus dem dichten Funkverkehr auf 500 kHz herausgehört hatte. Beim Seefunk hat das Zeichen jetzt ausgedient! Es ist heute aber zum Synonym (Ersatzwort) für Notfälle schlechthin geworden. In Filmen legt man das Wort aus Baumstämmen zusammen oder stampft es in den Schnee, an Notruftelefonen findet man es genauso wie bei der Bergwacht. Jeder weiss was gemeint ist, wenn er auf die drei Buchstaben stösst. 

SOS lebt !

P.S.: Leider haben sich die Funktion des Zeichens verstümmelnde Schreibweisen für  SOS  durchgesetzt. Das ärgert mich ! In der Literatur findet man S.O.S. oder S-O-S. So hätte das Zeichen aber nicht funktioniert! Dabei war und ist es immer noch ganz einfach:

SOS  oder    ...---...

Quellen:
D. Vierus:  "CQD SOS MAYDAY (2000)
G. Ulsamer: "Feuerschiff Borkumriff - Die interessante Geschichte des Nachrichtenwesens an der Küste" (1988)
UIT Genf: "From Semaphore to Satellite" (1965)
B. Faulkner: "CQD and SOS - the real story"  in "radiouser" (August 2006)
Funktagebuch SS "Carpathia" 14apr12 / 05:30 p.m. bis 15apr12 / 01:30 a.m.
H.E. Hancock / Marconi Marine:  "Wireless at Sea - The first 50 Years" (1950)
WDR-TV: "Der Seenotruf SOS" (1991)
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Version: 08-Oct-06 / Rev.: 11-Jun-11 / HBu