Nach
91 Jahren ist nun Schluß, am 31. Dezember funkt "Norddeich Radio"
seinen allerletzten Ton
Nicht
viel los heute. Genau elf Gespräche bis zum Mittag, das ist schlapper
Durchschnitt. Immerhin, 15 Schiffe haben sich auf den stündlichen
Sammelanruf der ostfriesischen Küstenfunker von "Norddeich Radio"
gemeldet. Die heißen "St.Petersburg", "Klaipeda" oder "Murmansk"
und kommen auch von da - Osteuropäer, meist Russen. Alte Schiffe,
alte Technik: "Das sind jetzt unsere besten Kunden", sagt der Diensthabende,
schiebt die Tasse zur Seite und blättert wieder in der neuesten "PC-Welt".
So gute Kunden sind die Russen nun auch wieder nicht, daß hier die
Drähte heißlaufen würden und der Kaffee kalt werden muß.
Außerdem warten die Igors und Sergejs oft lieber, bis ihr Seelenverkäufer
im Hafen ist, statt von See aus umständliche und teure UKW-Gespräche
zu ordern - Pech für den Funkvermittler hinterm Deich. Der vertreibt
sich derweil die Zeit, zum Beispiel, indem er auf der Karte an der Wand
grüne Nadeln in die Nordsee piekt. Eine fixiert die verkohlte "Pallas"
vor Amrum. Oder vielmehr das, was von ihr übrig ist. Dabei war auch
der abgefackelte Holzfrachter kein guter Kunde der Ostfriesen: Nicht einmal
ein SOS haben sie hier empfangen - Ende 1995 hat "Norddeich Radio" die
Überwachung der Notfrequenz im deutschen Nordseebereich an die Dänen
abgegeben.
Viel
ist hier nicht mehr los. Deshalb auch wickelt die Telekom Deutschlands
älteste Küstenfunkstation, 1905 als "Kaiserliche Funkentelegraphenstation
Norddeich Radio" gegründet, zum Jahresende ab. Was einst mit dröhnendem
Knallfunk begonnen hatte, findet nun ein stilles Ende: Seit über den
sieben Meeren außer Sternen auch moderne Kommunikationstechnik am
Himmel hängt, braucht die christliche Seefahrt keine Funkhilfe mehr
am Boden. Wenn heute Kapitäne vor Hongkong ihren Reeder oder Heimweh
geplagte Matrosen vor Honolulu bei Muttern daheim anrufen wollen, wählen
sie direkt durch. Dann greifen sie zum Satellitentelefon oder zücken
in Landnähe das Handy - statt sich über Küstenfunk aufwendig
vermitteln zu lassen.
Anno
1959:
Es
herrschte Hochbetrieb zu Weihnachten und zum Jahreswechsel bei "Norddeich
Radio"
So
hat die technische Entwicklung "Norddeich Radio" überrollt. Seit Anfang
der 80er Jahre sinkt die Nachfrage kontinuierlich. Wurden in Spitzenzeiten
im Schnitt rund 600 Gespräche und etwa 1000 Telegramme aus allen befahrbaren
Ecken der Welt vermittelt, sind es heute kaum mehr als 30 Verbindungen.
Der internationalen Konkurrenz aber geht es nicht besser: "Selbst die Seemacht
Großbritannien stellt im nächsten Jahr den internationalen Küstenfunk
ein", sagt Wolfgang Hellriegel, derzeit noch Funkdienstleiter bei "Norddeich
Radio" in Utlandshörn, demnächst Ruheständler, "da erkannt
man die Entwicklung".
Die
läßt sich auch am lauen Weihnachtsgeschäft ablesen: Während
heute gerade mal zwei Funker im Advent Dienst schieben, mußte früher
über die Feuertage eine Urlaubssperre verhängt und Sonderschichten
gefahren werden. "Da war früher Hochkonjunktur", sagt Johann Erdmann,
"Heilgabend, Muttertag und Silvester haben wir hier jeden Mann gebraucht."
Noch
heute geht Funkveteran Hellriegel das Herz auf, wenn er an den alljährlichen
Spezialservice im Dienst von Knecht Ruprecht denkt: Für die NDR-Kultsendung
"Gruß an Bord" wurden in Norddeich jahrelang die Verbindungen zwischen
den Familien an Land und den Seemännern in der Ferne gestöpselt.
Die durften dann für ein paar Minuten auf Kosten des Senders über
den Äther plaudern, und zwischen Ems und Elbe wurde an den Rundfunkempfängern
geschluchzt und geheult. "Das ging so schön auf die Tränendrüse",
schwärmt Hellriegel und summt versunken die Erkennungsmelodie von
Wagner: "Das war vor der Bescherung eine Pflichtveranstaltung für
jede norddeutsche Familie." Vor allem das Kurzwellenrauschen sei dabei
prima angekommen. "Habt ihr Sturm? Bei euch gehen die Wellen so hoch",
hätten besorgte Mütter dann wissen wollen, und der geneigte NDR-Hörer
griff wieder zum Taschentuch.
Vorbei,
vorbei. Als später knisterfrei via Satellit geschaltet wurde, das
jedenfalls findet Hellriegel, "war das Feeling raus. Da hörst du nicht,
ob der andere im Indischen Ozean schwimmt oder nebenan in der Telefonzelle
steht." Nicht erst da freilich wurde den Norddeichern klar, daß es
mit dem Küstenfunk wohl bergab geht. "Das war ein kontinuierlicher
Abwärtstrend", so Ressortchef Erdmann, "bei all unseren Diensten vom
Telegramm bis zum Funkgespräch ging in den 80ern die Nachfrage zurück.
Man wußte dann, die Zeit ist vorbei." Immerhin müsse niemand
um den Job fürchten: Die Telekom will die entlegene Außenstelle
als eine Art Call- und Servicecenter weiter betreiben.
Beschleunigt,
glaubt Hellriegel, wurde der Niedergang des ostfriesischen Seefunks auch
durch die Entwicklung an Bord: Weil deutsche Schiffseigner zunehmend ausgeflaggt
haben und die Mannschaften billig im Ausland heuerten, sank der private
Funkverkehr nach Deutschland erheblich. Seit 1995 hat "Norddeich Radio
nach und nach die Funkdienste reduziert. Derzeit wird gerade noch ein schmaler
Küstenstreifen im UKW-Bereich bedient, was auch bald vorbei ist: "Zum
Jahresende legen wir endgültig den letzten Hebel um", sagt Hellriegel
mit ein bischen Wehmut und verläßt den Funkraum: "Dann gibt
es Norddeich Radio nicht mehr. Over and out." Jahrelang hat er im Dienst
der guten Tonqualität Funkgespräche über große Liebe,
Scheidungszwist und den Tod von Angehörigen mitgehört. Nun weiß
Hellriegel noch nicht mal, ob es Sinn macht, einen Abschiedsgruß
zu funken, wenn hier am 31. Dezember nach 91 Jahren Schluß ist mit
dem erdgebundenen Seefunk: "Auf den verbliebenen Arbeitskanälen hört
das wohl sowieso keiner."
|