Es hat sich ausgeschluchzt
Aus "Frankfurter Rundschau" vom 23. Dezember 1998, Nr. 298
Autor: Dietmar Ostermann        Abschrift: Rolf Marschner, DL9CM

Nach 91 Jahren ist nun Schluß, am 31. Dezember funkt "Norddeich Radio" seinen allerletzten Ton

Nicht viel los heute. Genau elf Gespräche bis zum Mittag, das ist schlapper Durchschnitt. Immerhin, 15 Schiffe haben sich auf den stündlichen Sammelanruf der ostfriesischen Küstenfunker von "Norddeich Radio" gemeldet. Die heißen "St.Petersburg", "Klaipeda" oder "Murmansk" und kommen auch von da - Osteuropäer, meist Russen. Alte Schiffe, alte Technik: "Das sind jetzt unsere besten Kunden", sagt der Diensthabende, schiebt die Tasse zur Seite und blättert wieder in der neuesten "PC-Welt". So gute Kunden sind die Russen nun auch wieder nicht, daß hier die Drähte heißlaufen würden und der Kaffee kalt werden muß. Außerdem warten die Igors und Sergejs oft lieber, bis ihr Seelenverkäufer im Hafen ist, statt von See aus umständliche und teure UKW-Gespräche zu ordern - Pech für den Funkvermittler hinterm Deich. Der vertreibt sich derweil die Zeit, zum Beispiel, indem er auf der Karte an der Wand grüne Nadeln in die Nordsee piekt. Eine fixiert die verkohlte "Pallas" vor Amrum. Oder vielmehr das, was von ihr übrig ist. Dabei war auch der abgefackelte Holzfrachter kein guter Kunde der Ostfriesen: Nicht einmal ein SOS haben sie hier empfangen - Ende 1995 hat "Norddeich Radio" die Überwachung der Notfrequenz im deutschen Nordseebereich an die Dänen abgegeben. 
Viel ist hier nicht mehr los. Deshalb auch wickelt die Telekom Deutschlands älteste Küstenfunkstation, 1905 als "Kaiserliche Funkentelegraphenstation Norddeich Radio" gegründet, zum Jahresende ab. Was einst mit dröhnendem Knallfunk begonnen hatte, findet nun ein stilles Ende: Seit über den sieben Meeren außer Sternen auch moderne Kommunikationstechnik am Himmel hängt, braucht die christliche Seefahrt keine Funkhilfe mehr am Boden. Wenn heute Kapitäne vor Hongkong ihren Reeder oder Heimweh geplagte Matrosen vor Honolulu bei Muttern daheim anrufen wollen, wählen sie direkt durch. Dann greifen sie zum Satellitentelefon oder zücken in Landnähe das Handy - statt sich über Küstenfunk aufwendig vermitteln zu lassen.

Anno 1959: 
Es herrschte Hochbetrieb zu Weihnachten und zum Jahreswechsel bei "Norddeich Radio"

So hat die technische Entwicklung "Norddeich Radio" überrollt. Seit Anfang der 80er Jahre sinkt die Nachfrage kontinuierlich. Wurden in Spitzenzeiten im Schnitt rund 600 Gespräche und etwa 1000 Telegramme aus allen befahrbaren Ecken der Welt vermittelt, sind es heute kaum mehr als 30 Verbindungen. Der internationalen Konkurrenz aber geht es nicht besser: "Selbst die Seemacht Großbritannien stellt im nächsten Jahr den internationalen Küstenfunk ein", sagt Wolfgang Hellriegel, derzeit noch Funkdienstleiter bei "Norddeich Radio" in Utlandshörn, demnächst Ruheständler, "da erkannt man die Entwicklung". 
Die läßt sich auch am lauen Weihnachtsgeschäft ablesen: Während heute gerade mal zwei Funker im Advent Dienst schieben, mußte früher über die Feuertage eine Urlaubssperre verhängt und Sonderschichten gefahren werden. "Da war früher Hochkonjunktur", sagt Johann Erdmann, "Heilgabend, Muttertag und Silvester haben wir hier jeden Mann gebraucht." 
Noch heute geht Funkveteran Hellriegel das Herz auf, wenn er an den alljährlichen Spezialservice im Dienst von Knecht Ruprecht denkt: Für die NDR-Kultsendung "Gruß an Bord" wurden in Norddeich jahrelang die Verbindungen zwischen den Familien an Land und den Seemännern in der Ferne gestöpselt. Die durften dann für ein paar Minuten auf Kosten des Senders über den Äther plaudern, und zwischen Ems und Elbe wurde an den Rundfunkempfängern geschluchzt und geheult. "Das ging so schön auf die Tränendrüse", schwärmt Hellriegel und summt versunken die Erkennungsmelodie von Wagner: "Das war vor der Bescherung eine Pflichtveranstaltung für jede norddeutsche Familie." Vor allem das Kurzwellenrauschen sei dabei prima angekommen. "Habt ihr Sturm? Bei euch gehen die Wellen so hoch", hätten besorgte Mütter dann wissen wollen, und der geneigte NDR-Hörer griff wieder zum Taschentuch. 
Vorbei, vorbei. Als später knisterfrei via Satellit geschaltet wurde, das jedenfalls findet Hellriegel, "war das Feeling raus. Da hörst du nicht, ob der andere im Indischen Ozean schwimmt oder nebenan in der Telefonzelle steht." Nicht erst da freilich wurde den Norddeichern klar, daß es mit dem Küstenfunk wohl bergab geht. "Das war ein kontinuierlicher Abwärtstrend", so Ressortchef Erdmann, "bei all unseren Diensten vom Telegramm bis zum Funkgespräch ging in den 80ern die Nachfrage zurück. Man wußte dann, die Zeit ist vorbei." Immerhin müsse niemand um den Job fürchten: Die Telekom will die entlegene Außenstelle als eine Art Call- und Servicecenter weiter betreiben. 
Beschleunigt, glaubt Hellriegel, wurde der Niedergang des ostfriesischen Seefunks auch durch die Entwicklung an Bord: Weil deutsche Schiffseigner zunehmend ausgeflaggt haben und die Mannschaften billig im Ausland heuerten, sank der private Funkverkehr nach Deutschland erheblich. Seit 1995 hat "Norddeich Radio nach und nach die Funkdienste reduziert. Derzeit wird gerade noch ein schmaler Küstenstreifen im UKW-Bereich bedient, was auch bald vorbei ist: "Zum Jahresende legen wir endgültig den letzten Hebel um", sagt Hellriegel mit ein bischen Wehmut und verläßt den Funkraum: "Dann gibt es Norddeich Radio nicht mehr. Over and out." Jahrelang hat er im Dienst der guten Tonqualität Funkgespräche über große Liebe, Scheidungszwist und den Tod von Angehörigen mitgehört. Nun weiß Hellriegel noch nicht mal, ob es Sinn macht, einen Abschiedsgruß zu funken, wenn hier am 31. Dezember nach 91 Jahren Schluß ist mit dem erdgebundenen Seefunk: "Auf den verbliebenen Arbeitskanälen hört das wohl sowieso keiner."


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