Trampschifffahrt in Asien
Erzählung und Bilder (21) von Jakob Rösti (© 2012), ehemals Funkoffizier auf MS Castagnola / HBDZ

MS „Castagnola“ in den Grossen Seen beim Laden von Gütern für amerikanische Streitkräfte im Fernen Osten
Im Rahmen der Weltreise, die von Kiel aus ging und gleichzeitig auch Jungfernreise war, erreichten wir mit MS „Castagnola“ von Südkorea, Keelung und Manila, Saigon. Es war der letzte Hafen, wo für amerikanische Armeestützpunkte im Fernen Osten die von den Grossen Seen, Ost- und Mittelamerika stammende Ladung gelöscht wurde. Sie hatte vornehmlich aus Mehl, Milchpulver, Mais, Kaffee und anderen Versorgungsgütern bestanden. Böse Zungen hatten auch herum geboten, in den Holzkisten seien Waffen transportiert worden. Bei der Charter Gesellschaft „Orient Mid-East Lines“ herrschte grosse Ungewissheit; weil eine Ballastfahrt in ein weit entferntes Land wirtschaftlich nicht vertretbar gewesen wäre, strebte man eine lokale Lösung an.
Saigon – Handwerksbetrieb im Stadtzentrum
Eines Tages hiess es, wir sollten nach Djakarta fahren und dort auf Order warten.
Auszug aus dem Funktagebuch: Thursday, August 31st 1961
00:30 Emerg batts ok / Stn QRV
01:00 Pilot on board
01:30 Let go lines
01:40 QTO Saigon bnd Djakarta – Proceeding downstream Rivière de Saigon
04:45/48 SP nil
04:48 Pilot off
04:55 AA on/Rö off
Einen Tag nach der Überquerung des Äquators - am Tag zuvor war eine traditionelle Äquatortaufe über die Bühne gelaufen - fing das Unheil an. Der Chief Engineer meldete, man müsse die Hauptmaschine dringend stoppen. Ein Kolbenfresser sei der Grund. Bereits im Ärmelkanal hatten wir uns bei schlechtem Wetter in einer englischen Bucht verkriechen müssen, damit das Maschinenpersonal eine Lagerwanne der Schwanzwelle auszuschaben im Stande war.
Aufgestopptes Schiff in schwerer See
Vorbereitung zum Ziehen eines Kolbens
Kolbenziehen auf hoher See und bei Schlechtwetter – 
Eine wirkliche Drecksarbeit
Nun trieben wir bei Windstärke 8 in der rauhen See. Die Besatzung, die sehnlichst auf ihre Heuerabrechnung wartete, musste ich auf später vertrösten. Das herumtanzende und leere Schiff verhinderte, dass die Papiere an ihrem ursprünglichen Ort verharrten. Auch die Schreibmaschine verweigerte ihren Dienst. Der Leichtmatrose Alexander aus dem Kanton St. Gallen war unser Spassmacher an Bord und ein hervorragender Seemann mit einer Grundausbildung als Rheinschiffer. Er verriet mir ein Allerweltsmittel gegen die Auswirkungen schlingernder und stampfender Schiffe. Ich solle die Monatsabrechnungen auf dem Fussboden erledigen. Dort könnten die Unterlagen sich bestenfalls nur noch seitlich verschieben, aber nirgends mehr herunterfallen. Alexander sorgte täglich für kernige Sprüche und so für beste Unterhaltung an Bord.
Der Aufenthalt in Tanjung Priok war nur von kurzer Dauer. Wir müssten weiter nach Surabaya fahren und dort auf weitere Order warten, hiess es. Nach mehreren Tagen Wartezeit auf Reede und ausreichend Zeit für die administrativen Arbeiten, liess man uns am 7. September 1961 in Surabaya einlaufen und an einer Pier festmachen. Von nun an wurden wir von der Agentur Supplier Djaya Bhakti Surabaya, dem offiziellen Vertreter der Orient Mid-East Lines, betreut, das heisst, nach Strich und Faden ausgebeutet.
Täglich erschien an Bord ein geschwätziger Kle-Ma-Du-Bo (Kleiner magerer dummer Bock) der Agentur, dessen Ansinnen darin bestand, bei allen Besatzungsmitgliedern Waschpulver und Seife einzusammeln, die der Chief Steward wöchentlich abzugeben pflegte (je ein Paket Waschpulver SUNIL und zwei Seifen PALMOLIVE). Der Agent versicherte, dass er die Ware einem Waisenhaus spende. Als Gegenwert bot er seine - wie er immer wieder betonte - Tochter zum Gebrauch an. Damit geriet er auf einem Schweizerschiff von Anfang an in Misskredit. Besonders die Ehefrauen des Kapitäns und des Ersten Offiziers rebellierten aufs Heftigste. Der Alte beschwichtigte jedoch: „Lasst ihn doch, der Mann ist gar nicht so schlecht, sondern fürsorglich“. Ich traute dem Suppenkaspar überhaupt nicht. Der englische Funker eines vor uns liegenden Schiffes belehrte mich, dass auf ihrem Neubau derselbe Vertreter der Agentur ein- und ausgehe. Der betreibe nämlich an Land ein lukratives Geschäft mit westlichen Waschmitteln, und das Mädchen, das er als seine Tochter ausgebe, sei eine minderjährige Dockschwalbe von der Hafenstrasse.
Als sich an Bord die Spinds und Schubladen entleert hatten und der Agent kaum noch was einheimsen konnte, kam auch dem Kapitän langsam die Erleuchtung. Er und ich forderten einen Gegenwert für die Gaben an das Waisenhaus. Wir einigten uns auf zwei Original-
Kannibalenmesser mit Resten von Menschenblut daran. Der Mann von der Agentur versicherte, dass die Beschaffung überhaupt kein Problem sei, und dass er mir und dem Alten gerne so etwas besorge. Täglich, wenn er an Bord kam, bestätigte er, dass die Messer auf gutem Weg seien. Tage später korrigierte er seine Aussage. Es sei sehr schwierig, Kannibalen-Messer aufzutreiben. Er müsse dazu in entlegene Büsche fahren und mit Eingeborenen verhandeln.
Das an den „Managing Owner“ in Genf abzuschickende Paket mit den Monatsabrechnungen an der nächstgelegenen Poststelle loszuwerden war sehr schwierig. Bis ich eines Tages merkte, dass das Postbüro überhaupt nicht zugänglich war, weil der Posthalter hinter seinem Haus den Tag in einer Hängematte zwischen zwei Bäumen verbrachte oder mit seinen Kindern spielte. Letztendlich wollte er für den Versand nicht nur das Geld für die Briefmarken, sondern auch fünf Stangen Zigaretten der Marke CAMEL. Es sei an dieser Stelle vorweg genommen: Die Sendung kam in Genf nie an, was aufwändige Umtriebe zur Folge hatte.
Auch mit den Landgängen wurde es immer schwieriger. Die Seeleute der „Castagnola“ beschwerten sich bei mir und dem Alten, dass man ihnen am Hafentor Geld abzunehmen pflege, angeblich, weil der Staatspräsident Sukarno verboten habe, soviel Zaster anzulanden. Als der Kapitän mit seiner Frau in Richtung Stadt wollte, filzten die „Zöllner“ auch ihn. Als sie anfingen, an seiner Frau zu fummeln, geriet er ausser sich und brüllte die „Taschendiebe“ an, wenn sie seine Frau oder auch Mannschaftsmitglieder des Schiffes noch ein einziges Mal berühren würden, werde er ihr Barackenlager am Gate abfackeln lassen. Er habe das Geld, um für einen solchen Auftrag Leute zu engagieren. Die Drohung des Kapitäns zeigte umgehende Wirkung. Unsere Leute konnten von nun an ungehindert an Land pilgern.
Zu allem Übel ging nun auch noch der Brennstoff (Schweröl und Diesel) sowie das Trinkwasser des Schiffes langsam zur Neige. In der zweiten Monatshälfte hiess es „Leinen los“. Die Irrfahrt ging weiter nach Balik Papan/Borneo zwecks Bunkern und Entgegennahme neuer Aufträge. Am Auslauftag in Surabaya kam auch noch der Vertreter der Agentur an Bord. Er nuschelte, es sei ihm nicht gelungen die Kannibalenmesser durch den Zoll zu schmuggeln. Er habe aber eine gute Lösung gefunden. Die beiden Geschenke an den Kapitän und mich seien nun auf dem Lotsenboot und wir sollen beim Ausstieg des Pilots zwei Leinen herunterlassen. Die Besatzung des Bootes
werde dann besorgt sein, dass alles wie geplant ablaufe.
Surabaya war schon ausser Sichtweite, als der Lotse von Bord kletterte. Der Bootsmann Werni warf zwei Leinen über Bord, um die zwei Pakete in Empfang zu nehmen. Doch nichts geschah. Mit höhnischem Gelächter der Besatzung tuckerte die Barkasse davon ohne etwas an die Leinen zu heften. Das Projekt Kannibalenmesser war damit zu Grabe getragen. Fazit: Waschpulver weg, Seifen weg, Lotse weg; auch unsere Moral war weg. Des Kapitäns Blut kam in Wallung. Seine französischsprachige Gattin meinte: „Dieses Mensch isch vraiment eine schlechtes Mann!“ In einem QTC via Manila Radio an die Agentur in Surabaya versuchten der Alte und ich unseren Frust loszuwerden: „The represent of your office is a goddamn bastard!“

Von Balikan Papan in der Provinz Kalimantan ging also die Irrfahrt wieder über den Äquator nordwärts nach Batangas auf der Insel Luzon. Hier sollten wir mehrere Dutzend Arbeiter einer Beladungsgang an Bord nehmen, die auf „Castagnola“ mitfahren sollten, um auf einer Trampreise durch die Inselwelt der Philippinen das Schiff von Ort zu Ort zu begleiten. 
Der Auftrag der "Orient Mideast-Line" sah also vor, dass wir entlegene Siedlungen - darunter auch Pfahlbaudörfer - anlaufen sollten, um die Kopra-Jahresernte (Das getrocknete Kernfleisch von Kokosnüssen, aus dem Kokosöl gewonnen wird) unzähliger Stämme zu übernehmen. Aus diesem Anlass wurden vielerorts sogar Volksfeste veranstaltet, weil wir das einzige Schiff des laufenden Jahres waren, das zu Besuch kam.

Unser Chief Engineer aus Bremen war ein Ausnahmekönner. Er kannte jede Ecke der „Castagnola“ und die technischen Anlagen hatte er im Griff wie kein anderer. Kein Wunder, hatte ihn doch der Eigner des Schiffes, der Herr Baron Heinrich von Thyssen, von Beginn der Kiellegung weg bei der Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft, Flensburg, bis zur Ablieferung als Baubeaufsichtiger im Einsatz. Seine Vorzeigestücke waren die Hauptmaschine vom Typ 6SAD72 mit 6 Zylindern der Gebr. Sulzer Winterthur mit einer Leistung von 5'400 PS und die Sulzer-Hilfsdiesel.
Doch der sparsame Bremer hatte auch seine Marotten. Sie betrafen vor allem seine Essgewohnheiten, denn er lehnte es beharrlich ab, etwas anderes zu essen als Fische mit Salzkartoffeln. Selbst zum Frühstück verlangte er "Seafood" zusammen mit Bremsklötzen, was
ihm vor allem von Koch und Chief Steward nicht unbedingt Mitgefühl entgegenbrachte.
In Batangas hatten wir nun ausreichend Triebstoff und Wasser an Bord, aber keine Kartoffeln mehr. Das bewog den Chief Egineer, sein ganzes Repertoire an Schimpfwörtern von sich zu geben. Er zeigte sich sehr geharnischt und drohte, wenn es keine Kartoffeln mehr gäbe, die Stromversorgung an Bord abzuschalten. Unter dieser Erpressung hatten sowohl der Chief Steward als auch ich als Purser zu leiden. Laut dem Agenten gab es zwar Kartoffeln zu kaufen, aber nicht kostengünstiger als 3 US-$/pro Kilo (der Umrechnungskurs betrug damals Fr 4.32 für einen Dollar). Die Bordkasse – auch Kriegskasse genannt – wie auch der von der Reederei vorgegebene Tagessatz für die Verpflegung liessen solche Ausgaben nicht zu. Also wagten sich Kapitän und Chief Steward mit einem angemieteten und ausrangierten Army-Jeep aufs Land hinaus auf die Suche der kostbaren Erdäpfel. Das monetäre Problem lösten die beiden, indem sie vorgängig Whisky und Zigaretten an unbestechliche Zöllner verscheuerten. Abends kehrten die beiden Einkäufer mit sechs Säcken Kartoffeln glücklich an Bord zurück. Fische gab es, wie überall auf der Welt, in unbeschränkten Mengen.
Der Chief Steward eröffnete daraufhin dem Chief Engineer, dass er ihm abends zur Feier des Tages ein besonderes Bankett vorbereiten werde. Auf die Frage was das denn sein werde, erwiderte der Steward: „Es ist ein Vorspeise für besonders sparsame Spiesser, nämlich eine schottische Tomatensuppe, bestehend aus einem halben Liter siedendem Wasser serviert in einem roten Teller!“

Mit den in Batangas an Bord genommenen Schauerleuten ging nun die Seereise südostwärts zur kleinen Insel Romblon, östlich der Tablas Islands. Es zeigte sich bald, dass diese Art von Seefahrt unseren Leuten neu war. Auch in der Funkerschmiede zu Hamburg war es nie Gesprächsstoff gewesen. Kaum losgefahren, meldete das Kombüsenpersonal, dass der Handfeuerlöscher neben der Eingangstüre verschwunden sei. Fast gleichzeitig beklagte der Zimmermann, im grossen Mannschafts-Waschraum achtern seien die Duschbrausen abmontiert worden. Daraufhin beschloss die Schiffsleitung, alle Türen abzuriegeln und dafür zu sorgen, dass alles was nicht niet- und
nagelfest verschraubt war zu entfernen und an einem sicheren Ort aufzubewahren. Das Schweizerschiff sei schliesslich kein Tante-Emma-Laden mit mehr oder minder Selbstbedienung, hiess es.

In Romblon sollte weiteres Beladungspersonal an Bord kommen. Doch die meisten waren Angehörige der bereits auf „Castagnola“ weilenden Gang, also Frauen und zum Teil auch Kinder. Sie waren draussen zuhause und errichteten zwischen den Luken und den Masthäusern ihre Wirkungszone, lebten von mitgebrachtem Reis und dem, was unser Kombüsenpersonal normalerweise nicht mehr verwertete und über Bord warf. Eigentlich verzehrten sie alles, was vier Beine hatte, ausser Tische und Stühle. Dazwischen liessen sie in Verstecken ihren zwischenmenschlichen Beziehungen freien Lauf und warteten darauf, dass ein „Foreman“ oder ein Einpeitscher sie mit grosskotzigem Gebrüll zusammentrieb und aufmunterte, etwas zu arbeiten.

Ein Teil der mitfahrenden Beladungsgang - Keiner tat etwas, dafür aber intensiv
Von Romblon aus verholten wir in Flussläufe, ankerten oder machten an namenlosen Anlegern in der Nähe eines Pfahlbauerndorfes fest. 
Endlose Beladung der „Castagnola“ mit Kopra
In den Laderäumen wurden die Säcke 
aufgeschnitten und deren Inhalt als Bulk 
transportiert
Mit den Ankern am Vor- und auch am Achterschiff gelang das Eintörnen durchwegs, so dass der Kahn in Fahrtrichtung verharren konnte.
Kaum war die erste Hiev mit Kopra auf dem Schiff verstaut, kamen auch schon die Koprakäfer als unerwünschte Bewohner zum Zug. Sie sind extrem vermehrungsfreudig und die Weibchen legen tausende von Eiern. Jedem Ei entschlüpft innerhalb von zwei Tagen ein neuer Käfer. So war es nicht verwunderlich, dass das ganze Schiff von diesen Viechern innert kürzester Zeit besiedelt wurde. An Türklinken oder den Schraubgriffen zu den Fenstern hingen die bläulich-schwarzen Insekten wie Trauben herunter. Mit der Ventilation wurden sie in alle Ecken des Innern gepustet, so dass sie in den Kojen wiederzufinden waren. Beim Essen musste man sie mit der Messerspitze aus Brot, Suppen und den übrigen Mahlzeiten herausfischen. Zog man das Hemd oder die Hose aus, kamen mit Sicherheit einige hundert der Wüstlinge zum Vorschein. Die Kopra-Invasion schlug enorm auf die Moral der Besatzungsmitglieder.
Das Beladen des Schiffes war eine Sache, die mitfahrenden „Eingeborenen“ aber ein zusätzliches Hindernis. Weil praktisch das ganze Schiff verriegelt war und von aussen niemand eine Toilette benutzen konnte, tauchte allmählich eine hygienische Knacknuss auf. Die Leute verrichteten ihre Notdurft in allen Ecken des Hauptdecks. Für die Männer war es einfach. Sie liessen ihre Beinbekleidung herunter, setzten sich auf die Reling und benutzten diese als Freiluft-Plumpsklo.
Wir nannten es "grosses Figurenscheissen". Von aussen sah das Schiff kurzerhand aus, als wären Notenlinien auf die Aussenbordwände gemalt worden. Mit einem an einer Leine hängenden Eimer holten sie anschliessend Wasser an Deck und wuschen sich nach erledigtem Geschäft ihre Fahrgstelle vor allen Anwesenden. Immer wieder musste die Decksmannschaft die Bremsspuren an den Aussenbordwänden beseitigen und übermalen.
Mit der Zeit merkten wir, dass alle Mitfahrenden einem gewissen Kastensystem angehörten. Die „Unterhunde“, das heisst ausgebildete Arbeitslose, schufteten sich als Lade-Gang fast zu Tode, bereiteten die Hieven mit den Koprasäcken vor und sahen dreckiger als ein Kaminfeger aus. Die Mittelschicht bestand aus einer etwas gehobenen Klasse. Sie standen an den AEG-Elektrowinden oder übten ihren Job als Tallymänner aus. Diese Leute konnten teilweise auch schreiben und lesen.
Kurzzeitig an einem Pier – Beseitigen der exkrementalen Bremsspuren aussenbords
Irgendwo in den Philippinen
Über die Ufer getretene Binnengewässer
Auch auf den Philippinen kann es regnen
Und dann waren da auch noch etwa 12-15 VIPs. Diese Parasiten standen oder sassen tags und auch nachts im Ruderhaus, palaverten dauernd in die Runde und orderten in der Kombüse ständig gutes Essen. Ein Teil davon ging an ihre Weiber und deren Kinder, die unten auf dem Hauptdeck ausharrten und mit offenen Mäulern nach Futter lechzten.
Ein erschreckendes Szenario waren auch ihre amtlichen Dienstzweige, die sie vehement verteidigten. Sie nannten sich Hafenkapitän, obschon weit und breit kein Hafen sichtbar war, oder Revier- und Hafenlotsen, Ladeoffiziere, Watchmen, Survivors, Decksleiter, Cargobesitzer, technical Engineers, Main-Director, Financial-Heads, Quarantäne-Ärzte, Stauer-Chiefs, Epidemie-Verantwortliche, usw. usw. Alle waren wesensgleich und litten an einem krassen Hang zur Selbstdarstellung. Im Grunde genommen hielten sie sich nur auf dem Brückendeck auf, um dort etwas zu klauen, was ihnen gerade in die Hände fiel. Die meisten sprachen kaum Englisch, dafür etwas Spanisch (bis 1973 Amtssprache). Ihre Wichtigkeit unterstreichend verlangten sie dauernd nach Mannschaftslisten. Am liebsten hätten wir den Kanakern den Balg epiliert.
Um uns nicht ausrauben zu lassen, erliess die Schiffsleitung den Befehl, alle Gerätschaften in Sicherheit zu bringen. Der Wohnraum des Funkers wurde zum Lagerraum umfunktioniert.
Sextante, Ferngläser, Kursdreiecke, Lineale, Seekarten, Fernbedienung der UKW-Anlage, Türfallen, Schlüssel, Teppiche, Pantrygeschirr, Essbestecke, Gläser o.ä. mussten umgehend eingelagert und von Decksleuten Tag und Nacht bewacht werden. Einen der Schurken erwischte ich sogar, als er im Kartenraum den Funkpeiler demontieren wollte, angeblich, weil das Gerät amtlich geprüft werden müsse. Er wollte auch wissen, was so ein Apparat wert sei, wusste aber nicht, wozu er gebraucht wurde. Ich befahl ihm, den Raum sofort zu verlassen. Er kehrte aber nach einer Viertelstunde zu einer neuen Erkundungsmission zurück, um sich unverfroren den im Kartentisch eingelassenen Chronometer anzueignen. Als ihm eine Matrose auf die Finger schlug, stahl er kurzerhand nach bekannter Masche den an der Wand hängenden Barometer samt Hygrometer. Trotz aller Wachsamkeit konnten die unverschämten Halunken in der Lotsenkabine hinter dem Kartenraum die Matratze der Koje entwenden und wasserseitig in einer längsseit liegenden Schute verschwinden lassen. Mit der Zeit fanden wir heraus, wer der Bandenführer war.
Er nannte sich Hafenkapitän und trug ein zerschundenes Schweinegesicht (wohl von einem missglückten Beutezug herrührend). Seine Antlitz sah aus wie eine dreipolige Steckdose. Er koordinierte den Abtransport von allem, was auf dem Schiff abgestaubt werden konnte. Als Hehler von Kapitän und anderen Leuten unsererseits identifiziert, fing er an, die Schweizer zu hassen, wie der Teufel das Weihwasser. Der Chief Mate liess seine Leute Reparaturarbeiten wie Spleissen, kleinere Malarbeiten usw. auf dem Peildeck ausführen. Sie sollten verhindern, dass die Philippinos die Notbatterien der Funkanlage abmontieren konnten. Kurz gesagt, wir waren von wenig Vertrauen erweckenden Leibeigenen, die unter der Knute des selbsternannten „Hafenkapitäns“ standen, umgeben. Sackhüpfen auf einem Minenfeld gehörte zu unseren Daueraufgaben. 
Immer wieder hiess es, wir müssten zu einem anderen Hafen fahren. Dabei handelte es sich lediglich um einen neuen Ankerplatz, um dort bereitliegende Kopra-Ladung aufzunehmen. Weil aber keine Schlepper zur Verfügung standen, musste für die kleine Distanz von ein paar hundert Metern die Maschine startklar gemacht werden, um aus eigener Kraft dorthin zu verholen.
Dort warteten aber auch schon wieder die Waschfrauen. Beide Hände in einander reibend, riefen sie den Seeleuten an Bord den weltweit bekannten Spruch „washi washi“ zu, wollten aber auch noch die Waschmittel für die Klamottenpflege. Kein Besatzungsmitglied erhielt jemals seine den Weibern anvertrauten Kleidungsstücke zurück. Meine in Saigon von einem Hafenschneider gefertigen sechs weissen Uniform-Hemden blieben auf „Nimmer-Wiedersehen“ verschwunden.
Die „Castagnola“ an einem namenlosen Anleger inmitten des philippinischen Urwaldes
Überall Kinder – Gespielt wurde nicht mit Fussbällen, sondern mit Blechdosen
Für die an Bord zur Besatzung gehörenden Damen war es ratsam, sich im Innern des Schiffes versteckt zu halten. Beim Anblick einer Weisshäutigen drohte das Blut der einheimischen Männer ins Wallen zu kommen. Eines Tages kam die Gattin des Kapitäns herangeeilt und rief: „Funggeer, was machen dieses Mann dort unten in die Ecke; er hat Hose unten und spielt mit seine Spargel?“
Abends schwärmten auch die so genannten „Billyboys“ aus; das sind in schöne Roben gekleidete und attraktiv geschminkte homophile Jünglinge, die mit wässerigem Mund versuchten, Besatzungsmitglieder ins Visier zu nehmen. Um ihre maskuline Herkunft zu vertuschen, unterdrückten sie den Stimmbruch und redeten mit Kopfstimme oder flüstern so leise, dass man sie kaum verstand. Der zweite Steward machte mit den Androgynen seine Erfahrungen. Seiner Ansicht nach waren sie nicht geistig behindert, sondern vor allem von hinten begeistert. Der Steward wurde deshalb von allen anderen hämisch gehänselt.

Als die Meldung die Runde machte, dass unser nächstes grösseres Reiseziel der Hafen von Quinabigan an der Ostseite der Insel Mindoro sein sollte, wurde schnell mal das Gerücht verbreitet, dort gäbe es ein Postbüro, doch eine Ortschaft unter diesem Namen war auf Karten nicht zu finden. Die Einheimischen strömten nun herbei und belieferten mich mit Briefen und kleineren Paketen. Ich sollte diese nach Quinabigan bringen und dort versenden, was mich veranlasste, auf der Nock ein kleines Postbüro in Betrieb zu nehmen. Briefmarken hatte ich keine. Die Überbringer wussten nicht mal was das ist, und Geld hatten sie auch keins.

In den Philippinen nannte man es Hafen
Quinabigan vom Ankerplatz aus in Sichtweite – Eine Siedlung mit einigen hundert Einwohnern - Wo ist hier eine Poststelle?
Je länger wir innerhalb der philippinischen Inselwelt umhertuckerten, umso mehr litt ich an Entzugserscheinungen, denn die Funkstation stand ausser Betrieb. Die Antennenanlagen lagen auf dem Deck, womit ein Kontakt zur Aussenwelt verunmöglicht war. Nirgendwo war ein anderes Schiff in Sicht. Allfällige QSP-Gedanken verflogen im Nu. Spätestens jetzt kam mir die Erleuchtung, dass ich als Mitglied der Baubeaufsichtigung bei der Flensburger Schiffsbau-Gesellschaft für die Funkanlage mit Vorteil Rundstrahler (Storchennester, Stabantennen o.ä.) geordert hätte.
Not macht erfinderisch. Wieder mal an einer Anlegerpier liegend, hatten der Bootsmann Werni, der Zimmermann Theodor und der Elektriker Hans den Umständen gehorchend eine Glanzidee. Sie wollten mir querschiff die grosse Langdraht-Sendeantenne und eine kürzere Empfangsantenne zwischen Signalmast und der Dachrinne einer Wohnbaracke an Land aufhängen. Es war eine akrobatische Meisterleistung nur für Schwindelfreie. Alle drei glaubten nicht daran, dass damit eine Funkverbindung hergestellt werden kann und wollten dabei sein, um zu sehen, wie so etwas abläuft. Den Kasten Bier für ihre Sonderschicht hatte ich ihnen als milde Gabe bereits bereitstellen lassen. Der Chief Mate meinte, es wäre nicht nötig gewesen, die „Castagnola“ zusätzlich festzumachen. Die Vor- und Achterleinen seien kräftig genug.
Die Funkverbindung mit DAN auf dem 16/17 MHz-Band gestaltete sich zwar auf wackeligen Beinen. Doch meine Ankündigung „QTH Far East QTC 6 QRY? up?“ zeigte, wie anpassungsfähig man auf dieser Küstenfunkstelle sein kann. „Ok QRY1 QRV ga“ liess der dortige Opr über seinen eigenen Schatten springend ankündigen und gestattete wider alle Vorschriften, die Telegramme auf der Anruffrequenz zu übermitteln. Der Mann hatte offensichtlich eine Ahnung von Ausbreitungsbedingungen. Ich war überrascht, hörte man doch von anderen Ops immer wieder, DAN sei hartnäckig in der Auslegung der Dienstvorschriften.
Allein schon wieder mal die VIBROPLEX schwingen zu lassen, war mit einem inneren Nationalfeiertag vergleichbar.
Die zweite Funkverbindung via HEB (Norddeich Süd) war sehr ernüchternd und stiess dem Kapitän sauer auf. In einem Telefongespräch mit der Managerfirma in Genf musste er erfahren, dass die Schiffspost aus Surabaya nicht angekommen sei.
Und über die Küstenfunkstelle IAR vernahmen wir vom Hinschied des Vaters eines unserer Matrosen.
Der „Nautische Funkdienst“ als hervorragender Dienstbehelf ermöglichten mir, den Einstieg in die Seefunkerei wieder zu finden. Doch was da bezüglich Philippinen als Küstenfunkstellen angepriesen wurde, war eher mit amtlichen Schlafstellen zu vergleichen. Immerhin gelang es mir, die vom WHO in Genf ausgestrahlten Bulletins des „Seuchenfunks“ zu Papier zu bringen, was die Schiffsleitung sehr erfreute.
Das Verfolgen der tfc-lists von FFL, CUL, WCC, IAR, DHS, WSL, GKB und PCH sowie das Abhören japanischer WX-Berichte über den asiatischen Bereich gehörten zum täglichen Berufsalltag.

Je länger wir von der Aussenwelt abgeschnitten waren, desto mehr drückte der seltsame Alltag auf die Psyche einzelner, deren Unmut sich auch in der Kritik über die verabreichten Mahlzeiten äusserte. Als Sprachrohr der Decksmannschaft beklagte sich der Spassvogel Alex in abschätziger Weise bei Kapitän, Chief Steward und Kombüsenpersonal. Weil am Seemanns-Sonntag schon seit geraumer Zeit anstatt ganze nur noch halbe grillierte Hähnchen aufgetischt wurden, griff er zur Selbsthilfe. Auf der Poop achtern errichtete er ein kleines Gehege mit einem halben dutzend Hühnern und einem Hahn. Er sei mit der Aufzucht von halben Hähnchen mit nur einem Flügel und einem Bein beschäftigt und werde diese dem Chief Steward kostengünstig abgeben. Eines Nachts waren Alex' Hühner und der Hahn verschwunden, worüber der Leichtmatrose sehr vergnatzt war. Seine Abnützungserscheinungen nahmen seinen Lauf. Es schien, als käme er aus Schilda. In seiner Kammer erstellte er ein Labor. Weil auf den Philippinen viel zu viele Kinder gezeugt werden, entwickle er jetzt ein Verhütungsmedikament, also eine Pille danach – für den Mann. Das Rezept habe er von seinem Bruder erhalten, der ein Einzelkind sei. Zur Herstellung des Medikamentes benötigte er angeblich verschiedene asiatische Kräuter sowie getrocknete und gemahlene Koprakäfer.

Eines Tages erwischte es auch den Kapitän und seine Frau mit Ameisen im Bauch. An Land erstanden sie bei einem Händler einen Ara mit schwarzweissem Federkleid, weil ihnen versprochen wurde, der Vogel werde schon nach einem kurzen Einführungskurs sprechen können. Daraufhin stellten die beiden Eheleute den Käfig in ihrer Bordwohnung auf den Tisch, setzten sich davor und fingen an, dem Ara mit Inbrunst einzutrichtern „der Direktor ist doof“. Tagelang wiederholten die beiden den Spruch. Doch ausser einem schrillen Pfeifen war der Ara nicht Willens, etwas Verständliches von sich zu geben. Das zerrte dem Alten am Nervengilet, worauf er den Käfig samt Ara auf der Fahrt zu einem Ankerplatz über Bord warf.
Es dauerte nicht lange, da ging der "Maître de tous les plaisirs" bereits einem neuen - Scherereien verursachenden - Hobby nach. Von einem Landgang mit seiner Frau kehrte er mit einem kleinen schwanzlosen Affen zurück. Feierlich wurde das Tier „Jungo“ getauft. Auch dieser Erwerb entpuppte sich als Rohrkrepierer. „Jungo“ kletterte überall herum und verteilte seine Hinterlassenschaft dort, wo es ihm gerade passte, notfalls auch auf dem Esstisch. Heimlich wurden dem Tier mit Gin durchtränkte Zuckerwürfel verabreicht, wodurch nicht eindeutig erkennbar war, ob „Jungo“ nun seekrank war oder im Zustand der Volltrunkenheit lebte. Statt im Wohnraum Koprakäfer zu vertilgen, beschäftigte sich „Jungo“ damit, dem Captain die Sitzfläche seines Diwans zu zerreissen und den filzartigen Inhalt am Boden zu verteilen und auseinander zu zupfen.

Jungo kletterte überall herum,
auch ohne Schwanz
Der zweite Offizier mit einer Schlange,
die er nach Hamburg ausschaffen wollte
Boac – Auf dem Markt
Viele Wochen später und wieder in Hamburg angekommen, sollten zwei Matrosen den nicht lern- und therapierfähigen „Jungo“ in Hagenbecks Tierpark bringen. Dazu waren viele Ausreisepapiere notwendig. Die Zoowärter hatten wenig Freude an der Gabe. Sie packten „Jungo“ an einem Bein und warfen ihn lebendigen Leibes den Schlangen zum Frass vor.
In diesem Stil ging die Kakofonie weiter. Der zweite Offizier wollte eine Riesenschlange nach Hause mitnehmen. Einem Assi vertraute er an, dass er an das perfekte Verbrechen glaube und in der Schweiz seine untreue Freundin der ausgehungerten Schlange zum Frass vorwerfen werde. Zum Glück verweigerte die Schiffsleitung dem Zweiten den Export des exotischen Reptils.

Von Boac ging die Fahrt weiter nach Cagayan de Oro auf der Insel Mindanao. Vorgängig ordnete die Schiffsleitung grosses „Shipshape“ und Deckschrubben auf HBDZ an, das sich in einem erbärmlichen Zustand befand. Der Neubau präsentierte sich wie ein 30-jähriger Seelenverkäufer auf der letzten Fahrt zum Schredderplatz. Mancheiner dachte, wenn der Baron von Thyssen sein Flaggschiff in diesem kläglichen Zustand sehen würde, er könnte es nicht wiedererkennen und bitterlich weinen. Und es war eine Tatsache: In Cagayan de Oro bekamen wir endlich wieder mal ein Schiff zu Gesicht. Es war ein deutscher Hochseeschlepper, der mit einem Schwimmdock unterwegs nach Fernost war.

Ins Wasser geworfenen Münzen wurden von philippinischen Frauen aufgefischt
Niemand an Bord war in der Verfassung, zu den Philippinen eine Sympathie- oder Liebesbeziehung aufzubauen. So war die ganze Besatzung froh, dass von Zamboanga aus die Heimreise nach Europa angetreten werden konnte. Doch zuerst musste die „Castagnola“ komplett durchgekämmt werden, um zu verhindern, dass sich blinde Passagiere einnisten konnten. Ferner galt es, die in der Funkerwohnung gehüteten Gegenstände wieder an ihren Ursprungsort zu bringen.
Auslaufend Zamboanga - Als FO endlich wieder aktiv wie es sich gehört, inmitten von Koprakäfern
Es war schon November, als wir den Suez-Kanal via Djibouti, wo gebunkert werden musste, erreichten. Auf der ganzen Reise von Zamboanga bis hierher war der philippinische Traum nicht zu Ende gegangen. Täglich zweimal mussten alle Luken geöffnet werden, damit die Koprakäfer wolkenförmig die Laderäume verlassen konnten. Die Sonne verschwand dabei oftmals minutenlang hinter den schwarzen Schatten. Beim Wegschaufeln der verendeten Insekten an Deck kam bei der Mannschaft eitel Freude auf, weil alle dachten, eines Tages wird der letzte Käfer das Schiff verlassen haben. Doch der Spuk dauerte bis in Mittelmeer, wo es empfindlich kälter wurde.
Abgeladen mit Kopra im Suez-Kanal in Richtung Schweden
Anfang Dezember erreichten wir via Rotterdam den schwedischen Hafen Karlshamn. Bei einer Fettfabrik wurde die ganze Ladung gelöscht. Anschliessend ging die Weiterfahrt nach Hamburg zu einem mehrwöchigen Werftaufenthalt. Die „Castagnola“ erhielt bei den Howaldtswerken einen neuen Boden, der wegen eines schweren Unfalls im Ontariosee aufgeschlitzt worden war. Zudem musste das Schiff generalüberholt werden.
Denke ich an die Philippinen in der Nacht, so bin ich noch heute um den Schlaf gebracht!
Bildnachweis:

Alle Fotos (21) Urheber gem.§7 Urh.G. / © by Jakob Rösti, CH  (Mit freundl.Genehmigung im Mai 2012)

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Version: 22-Jul-12 / Rev.: 05-Sep-12 / HBu