Am Nachmittag des 28. Mai 1914 lag die „Empress of Ireland“ im Hafen von Quebec in Kanada. 2600 Tonnen Kohle und 1100 Tonnen Ladung waren übernommen worden, darunter mehr als 200 Silberbarren im Wert von damals gut 150 000 Dollar und rund 300 Sack Post für Europa. Im Laufe des Nachmittags waren auch die Passagiere an Bord gekommen. Dabei sind 170 Angehörige der Heilsarmee, unterwegs nach London zu einem Weltkongress ihrer Organisation. Grössen aus Wirtschaft, Politik, Adel oder Kunst – wie z.B. auf der „Titanic“ gut zwei Jahre zuvor - sind nicht unter den Passagieren.
Die Canadian Pacific Railway (CPR) unterhielt damals als eine der ersten Reedereien einen weltumspannenden Passagier- und Frachtdienst. Ausgehend von Liverpool überquerten die Dampfer den Nord-Atlantik zum St. Lorenz nach Quebec. Hier konnten Passagiere und Ladung auf die Eisenbahn umsteigen, über den Nordamerikanischen Kontinent bis Vancouver fahren, dort erneut ein Schiff der CPR betreten und den Pazifik in Richtung Ostasien, Ozeanien oder Australien überqueren. Unter Reisenden war dieses Angebot der Canadian Pacific Railway auch wegen ihrer berühmten Flotte von Empress-Linern sehr beliebt. Um 16 Uhr am 28. Mai 1914 wird signalisiert, dass alle Personen die nicht als Passagier gebucht haben oder zum Personal gehören, die „Empress of Ireland“ verlassen müssen. Insgesamt befinden sich jetzt 1477 Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord. Der 40jährige Kapitän Henry Kendall hat seit dem 1. Mai 1914 das Kommando auf dem Schiff. Seine Karriere begann vor 25 Jahren auf der „City of Berlin“, dem ersten Atlantic-Dampfer mit elektrischem Licht. Schon 1907 war er als 1. Offizier auf der „Empress of Ireland“ gefahren, jetzt ist er ihr Kapitän! Bekannt wurde er 1910 als Kapitän der „Montrose“. Während einer Überfahrt nach Kanada glaubte er unter den Passagieren den in England wegen Mordes an seiner Frau gesuchten Dr. Crippen erkannt zu haben und informierte Scotland Yard mit Hilfe der drahtlosen Telegrafie über seinen Verdacht. Bei Father Point kam Inspector Dew als Lotse verkleidet an Bord der „Montrose“ und verhaftete Dr. Crippen und dessen Freundin. In der „Montreal Daily Star“ wurde vermerkt, dass Dr. Crippen, als er von Bord geführt wurde, in Richtung Kapitän Kendall den Fluch aussprach: „You will pay for this treachery, Sir!“ Dr. Crippen wurde im November 1910 in London gehängt.
Dew von Scotland Yard von Bord der "Montrose" führen. Hierbei handelt es sich um die erste Lösung eines Kriminalfalles mit Hilfe der drahtlosen Telegrafie
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Die
Funkstation bestand aus Geräten der Marconi-Company: Einem Funkensender
mit allen dazu gehörenden Gerätschaften, einem „Multiple Tuner“
mit „Magnetic Detector“ für den Frequenzbereich 115 bis 3750 kHz und
einem aus der Batterie betriebenen Notsender mit geringerer Leistung und
Reichweite. Während seiner Wache am Vormittag hatte Funkoffizier Ferguson
alle Geräte überprüft und die Batterien aufgeladen. Bis
Mitternacht verlief die Reise ohne besondere Vorkommnisse. Auf der Brücke
übergab der 1. Offizier J. Jones die Wache an den 3. Offizier Charles
Moore. Im Funkraum beendete zu dieser Zeit Funkstellenleiter Ferguson seine
Wache und übergab die Funkstation seinem Kollegen Bamford. Beide waren
Angestellte der Marconi-Company. Ferguson ging in seine Kammer, schlüpfte
in den Pyjama und legte sich in die Koje. Um 00:50 näherte sich die
„Empress of Ireland“ Rimouski, wo ein letztes Mal Post übernommen
wurde. Zu diesem Zweck kam der Tender „Lady Evelyn“ von Rimouski aus längsseits,
das Manöver ging zügig vonstatten. Um 01:30 kam aus Father Point
das Lotsenboot „Eureka“ und Lotse Bernier verliess die „Empress of Ireland“,
die nun mit 15 Knoten quer durch die an dieser Stelle etwa 30 Meilen breite
Mündung des St. Lorenz lief.
links: Erster Funkoffizier Ferguson |
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Funker
Ferguson wurde in seiner Kammer durch das Nebelhorn seines Schiffes geweckt.
Ein anderes Tyfon antwortete den Signalen der „Empress of Ireland“. Ehe
er aus der Koje springen konnte, fühlte er einen heftigen Stoss. Ohne
sich zu bekleiden, rannte er aus der Kammer in den Funkraum. Hier nahm
er Bamford den Kopfhörer ab und bat ihn, seine in der Kammer zurückgelassene
Oberbekleidung zu holen. In der Zwischenzeit schaltete Ferguson den Sender
ein und tastete die Meldung:
Dann stürzte der 1. Offizier Jones in den Funkraum und befahl ihm, SOS zu senden. Die genaue Position und der Name des Kollisionsgegners waren Ferguson nicht bekannt. In grosser Eile sendete er daher nur: Foto links: Zweiter Funkoffizier Bamford |
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von Father Point heute. Hier
war die
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Bei
„Father Point Radio“ hatte Funker Russel schon nach der ersten Meldung
seinen Wachhabenden W.J. Whiteside geweckt. Whiteside übernahm sofort
die Funkanlage.
Er arbeite hier, seit die Marconi-Company 1909 die Funkstation im Leuchtturm von Father Point am Südufer der Mündung des St. Lorenz eingerichtet hatte. Er hat bereits 1910 die Meldungen der „Montrose“ im Fall des Dr. Crippen weitergeleitet und auch am 12. April 1912 den Funkverkehr beim Untergang der „Titanic“ aufgenommen. Jetzt fragte er nach dem Standort des Schiffes. Ferguson antwortete: Das Schiff hatte inzwischen mehr als 30 Grad Schlagseite bekommen. Ferguson stand mit einem Bein an der Wand und mit dem anderen auf dem Fussboden der Funkstation, als er die letzte Meldung abgab. Dann fiel das elektrische Licht aus. Er schloss die Kontakte der Morsetaste, damit der Kollege an Land hören konnte, wie der Strom zusammenbrach und dann gänzlich ausfiel. |
Für
den Empfänger benötigte Ferguson keinen Strom, sodass er weiterhin
Meldungen empfangen konnte. Whiteside bei „Father-Point-Radio“ war das
bekannt und er informierte die „Empress of Ireland“ darüber, dass
er die Schiffe „Lady Evelyn“ und „Eureka“ zur angegebenen Position beordern
würde. Ferguson wollte nun versuchen, die „Lady Evelyn“, die eine
neue Marconi-Station an Bord hatte, mit seinem Notsender zu rufen. Dazu
kam es jedoch nicht mehr. Eine Flutwelle schlug gegen die Bullaugen, das
Schiff holte stark über. Dabei lösten sich die Akkumulatoren
aus ihrer Halterung, rutschten durch den Raum und verteilten ihre Säure.
Es gab im Funkraum nichts mehr zu tun! Ferguson, der von Bamford inzwischen
auch seine Bekleidung erhalten hatte, rannte an Deck und sah, wie die Passagiere
in das eiskalte Wasser sprangen. Er schnappte sich einen Decksstuhl, wurde
damit ins Wasser geschleudert und konnte nach einigen Minuten schwimmend
eines der Rettungsboote erreichen.
12 Minuten nach der Kollision kenterte das Schiff auf die Steuerbordseite und warf dabei Hunderte von Menschen ins Wasser. Weitere 2 Minuten später erhob sich das Achterschiff der „Empress of Ireland“ kurz und dann glitt das Schiff komplett unter die Wasseroberfläche. Am 29. Mai 1914 um 02:09 Uhr, nach nur 14 Minuten, war der Stolz der Canadian Pacific Railway Co. verschwunden . . . Was war geschehen?
Beunruhigt gab Kapitän Kendall 3 kurze Töne mit dem Tyfon um damit anzuzeigen, dass er „Voll Zurück“ gibt. 1 langer Ton antwortete aus der Dunkelheit und signalisierte damit, dass das fremde Schiff seinen Kurs halten werde. Das nächste was Kapitän Kendall sah, waren zwei Toplaternen an Steuerbord, die genau auf sein Schiff zukamen. Um eine Kollision zu verhindern, war es zu spät. Die für Eisfahrt konstruierte Bugspitze der mit 10400 Tonnen Kohle beladenen norwegischen „Storstad“ schnitt sich messerscharf genau zwischen den beiden Schornsteinen in die „Empress of Ireland“. Es war 01:55 Uhr. In der Steuerbord-Bordwand klaffte ein Loch von 7 Metern unterhalb bis 6 Meter oberhalb der Wasserlinie in einer Breite von 5 Metern. 250 bis 300 Tonnen Wasser liefen von jetzt an in jeder einzelnen Sekunde in das Schiff. Die Kesselräume waren in kurzer Zeit vollgelaufen, der Generator und damit der Strom fielen aus. Das Schiff bekam starke Schlagseite nach Steuerbord und sank schnell bis zum Hauptdeck. Kendall befahl sofort, SOS zu senden. Der Nebel löste sich so schnell auf, wie er gekommen war. Die „Storstad“ hatte sich aus der Umklammerung gelöst und war zunächst etwas abgetrieben. An Bord der „Empress of Ireland“ versuchten Passagiere und Besatzung das Innere des Schiffes zu verlassen. Bei immer stärker werdender Schlagseite fanden aber auch diejenigen, die meinten es geschafft zu haben, bald keinen Halt mehr an Deck. Lediglich 4 Rettungsboote konnten zu Wasser gelassen werden, ausnahmslos an der Steuerbordseite. Man versuchte, so viele Menschen wie möglich aus dem kalten Wasser zu retten.
Auch der Zweite Funker Bamford war einer der wenigen, die die Schiffskatastrophe überlebten. Er hatte mit Passagieren ein Rettungsboot zu Wasser gelassen und war, nachdem es voll besetzt war, auf den Leuchtturm von Father Point zugerudert. Sie erreichten wohlbehalten das rettende Land. Als der Morgen graute, waren alle Beteiligten auf dem Weg nach Rimouski oder Father Point. Die „Empress of Ireland“ lag in etwa 40 Metern Tiefe auf dem Grund des St. Lorenz. 1012 Menschen hatten ihr Leben verloren. Die meisten Opfer hatten das Schiff nicht mehr rechtzeitig verlassen können, nur wenig mehr als 400 Leichen waren geborgen worden. Bei der Untersuchung der Toten wurde festgestellt, dass viele von Ihnen nicht ertrunken oder im kalten Wasser erfroren waren, sondern an den Verletzungen starben, die sie sich durch Stürze an Deck oder durch umherfliegende Wrackteile zugezogen hatten. Lediglich 465 Personen waren gerettet worden. Wie
konnte diese Katastrophe passieren?
Hätten beide Schiffe weder Kurs noch Geschwindigkeit geändert, wären sie ohne Probleme aneinander vorbeigefahren. Als ob der Geist des toten Dr. Crippen den Fluch ausführen wollte, den er vier Jahre zuvor an gleicher Stelle ausgesprochen haben soll, zwang eine Nebelschwade beide Schiffe zum Handeln: Die „Storstad“ änderte ihren Kurs nach Steuerbord, die „Empress of Ireland“ änderte ihre Geschwindigkeit – beides zusammen war fatal. Die
Untersuchung des Schiffsuntergangs fand im Juni und Juli 1914 in Quebec
unter der Leitung des Ehrenwerten John Charles Bigham, Lord Mersey, statt.
Der gleiche Lord Mersey, der schon zwei Jahre zuvor die „Titanic“-Katastrophe
untersucht hatte. Kapitän Kendall beantwortete im Zeugenstand 869
Fragen. Die Kommission kritisierte ihn zwar dafür, dass er sein Schiff
im Nebel gestoppt und damit die Manövrierfähigkeit herabgesetzt
habe, die Schuld fand sie aber beim 1. Offizier Toftenes von der „Storstad“,
der den Kurs geändert und Kapitän Anderson nicht über den
Nebel informiert habe.
Eine Untersuchung in Montreal durch die norwegischen Seefahrtbehörde fand dagegen keinerlei Schuld bei der norwegischen Besatzung. Sie erkläre Kendall für schuldig, weil er das übliche Passieren „rot-an-rot“ (Backbord an Backbord) durch seine Manöver verhindert habe. Die „Storstad“ setzte ihre Reise bis Quebec fort und wurde dort von den Behörden beschlagnahmt. Nach der Versteigerung – die „Storstad“ ging wieder an die Vorbesitzer - wurde sie repariert und Kapitän Anderson blieb ihr Kapitän. Am 8. März 1917 wurde sie mit Anderson als Kapitän vor der irischen Küste von einem deutschen U-Boot torpediert und versenkt. Die Besatzung wurde gerettet. Teile der Ladung der „Empress of Ireland“ – 212 Barren Silber, 318 Postsäcke und der Safe des Zahlmeisters – wurden noch im Sommer 1914 geborgen. Bei den Taucharbeiten stellte sich heraus, dass alle wasserdichten Türen des Schiffes offen standen. Das erklärt den schnellen Untergang! Das Schliessen dieser Schotten war damals bei Nebelgefahr zwingend vorgeschrieben.
Bei
dem hier beschriebenen Schiffsunglück kamen 1012 Menschen ums Leben
- mehr Passagiere als beim Untergang der Titanic. Dem Einsatz der drahtlosen
Telegrafie ist es massgeblich zu verdanken, dass wenigstens 465 Personen
gerettet werden konnten. Besonders nachteilig wirkte sich aus, dass die
„Storstad“ keine Funkanlage hatte. Die Zahl der Geretteten wäre sicher
höher, wenn zwischen beiden Schiffen eine Koordinierung der Hilfsmassnahmen
hätte erfolgen können.
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