Hilfeleistung mitten im Atlantik
Erzählung und Bilder (10) von Jakob Rösti (© 2014), ehemals Funkoffizier MS Anunciada/HBDM - 


MS "Anunciada“ / HBDM im Hafen von Livorno beim Laden von Marmorblöcken- und Platten
Das Schweizer Motorschiff „Anunciada/HBDM“ war 1947/1948 von der Transports Maritimes Suisse-Outremer S. A., Genève, bei William Doxford & Sons Ltd., Pallion, Sunderland, gebaut worden. Der Stückgutfrachter wurde meistens mit einer Besatzung von 40 bis 48 Mann sowie 12 Fahrgästen in der grossen Fahrt eingesetzt. Er war - wie in den Nachkriegsjahren üblich - recht puritanisch ausgerüstet (Dampfwinden, Gasöfen in der Kombüse, angestrebte Spannung im Bordnetz 110 V Gleichstrom usw.). 

Vorschiff des Gemischtwarenladens „Anunciada“
Die Funkanlage der "Anunciada" bestand lediglich aus einer MW-, KW- sowie einer MW-Notanlage. Der MW-Sender von RCA E-8010-E ist im Bild unten nicht erkennbar. Links steht der HF-Sender RCA ET-8019-A, der mit einem Frequenzvervielfacher bis auf 22 MHz gebracht werden konnte, was dem Operator aber besondere Fertigkeiten abverlangte. Von ca. 200 Watt Leistung unterhalb von 16 MHz waren oberhalb nur noch zwei Drittel vorhanden. Der nicht eichbare Haupt-Empfänger Elektromekano M-84B deckte in 7 Teilbereichen die Bänder von 15 kHz bis 26 MHz ab. Als Notempfänger diente ein umgebauter Flugfunkempfänger RCA BC 348.

Oben:  Die Funkstation der "Anunciada" / HBDM
Auf der „Anunciada“ trat ich als 23-jähriger Funker an. Es war mein drittes Schiff, auf dem ich nahezu während zweier Jahre ohne den Bezug von Urlaubstagen meinen Dienst versah, zusammen mit einem 34-jährigen Kapitän aus der französischen Schweiz, der auf all seinen Fahrten von seiner Gemahlin (damals 28 Jahre jung und ebenfalls aus der Welschschweiz stammend) begleitet wurde. Auf meinen nachfolgenden Schiffen fuhr ich mit wenigen Ausnahmen mit demselben Kapitän zur See, sozusagen als „Wanderfunker““. Noch bis heute verehre ich ihn als besten und vorbildlichsten Vorgesetzten in meinem Leben. 
Es war an einem frühen Samstagmorgen im Januar 1959, als wir uns mit „MS Anunciada/HBDM“ zwischen den Azoren und Florida, vollbeladen mit Marmorplatten aus Livorno, Schuhen mit Ursprung Genua, mehreren hunderten Cabriolets der Edelmarke Peugeot aus Marseille, Wein von Cartagena und einigen hundert in Sevilla verschifften Fässern mit Oliven zwischen Cadiz und Jacksonville, Fort Lauderdale und Miami befanden. Der Sonnenaufgang offenbarte eine spiegelglatte See. Von unserer  Doppelkolben-Hauptmaschine des Typs 4-Zyl. 60 LB 4 Wm. Doxford & Sons Ltd. aus Sunderland, die dem Schiff eine Reisegeschwindigkeit von nicht mehr als 12 kn verlieh, war kaum etwas zu hören. Nur wer sich in der Nähe des Maschinenraumes befand, konnte ein leises Zischen und Schnaufen wahrnehmen. 
Während der 4/8-Wache war der Chief Mate gerade über den Kartentisch gebückt und in seine Berechnungen der frühmorgens geschossenen Sterne vertieft, als sein Ausguck in den Kartenraum geeilt kam, um steuerbord voraus ein grösseres Schiff zu melden, das keine Fahrt machte. Jedenfalls, so schilderte dieser, sei kein Kiel- bzw. Heckwasser zu sehen. Aufgeschreckt von dieser Nachricht, liess der Erste sofort den Kapitän wachrütteln.
Der Kapitän bestätigte die Beobachtungen. Nachdem auch - zumindest zeitweise - auf dem Schiff das Einflaggensignal „V“ mit dem roten Kreuz, also eine optische Meldung, dass man Hilfe benötigte, sichtbar wurde, liess er auch mich als Funker herbeirufen, damit ich mit dem Schiff Funkkontakt aufnehmen könne, ein recht schwieriges Unterfangen, da weder vom dahintreibenden Seefahrzeug der Schiffsname noch der Heimathafen erkannt werden konnte. So versuchte ich es mit einer auf 500 kHz ausgestrahlten Meldung „XXX de HBDM ship in close vicinity pls ans 500 kc/s A1 or A2“. Doch ausser dem Rauschen war auf der Notfrequenz nichts zu lauschen. Nach der erfolglosen Wiederholung des Anrufs, fand ich endlich Zeit, mich meines Pyjamas zu entledigen  und  Arbeitskleidung anzuziehen.
In der Zwischenzeit hatte der Kapitän unser Maschinenpersonal angewiesen, sich auf Manöverfahrten einzustellen.
. . . . . . . .Oben: Signalflagge Victor „Ich brauche Hilfe“
Im Ruderhaus erwägten allerlei herbeigeeilte Leute, was man in unserer Situation vorkehren sollte. Ich meinerseits bat den Kapitän, eventuell mit einer Backbordwendung von achtern her näher an das Schiff heranzukommen, damit man den Schiffs- und Heimathafen erkennen könne. Schlussendlich wurde klar, dass es sich um ein spanisches Fahrgastschiff mit dem Namen „Catalunya“ mit Heimathafen Barcelona handelte. In den UIT-Unterlagen figurierte das Seefahrzeug als H24-Passagierschiff, in einem Verzeichnis von „Lloyd's Register of Shipping“ sogar als „Pleasure Ship“. Eine Funkverbindung konnte ich nach wie vor nicht herstellen. 
Nun nahm das Rätselraten auf der Brücke, was zu tun sei, neue Dimensionen an. Der Chief Engineer folgerte aus der vorliegenden Situation, dass dem Spanier wohl der Sprit ausgegangen sei. Auf meinen Einwand, von wo denn der Strom der eingeschalteten Bordbeleuchtung stamme, korrigierte sich der Mann aus Bremen: „Dann sei eben ein Maschinen- oder Ruderschaden die Ursache des Stillstandes“. Ein Heiterkeitserfolg blieb dem Fachmann nicht erspart. 
Noch schlauer waren der 2. Offizier und der Supercargo. Beide kamen zu dem Schluss, die Funkanlage des Fahrgastschiffes sei mit Sicherheit im Eimer, so dass die Funker meine Anrufe nicht beantworten können. Ich musste sie belehren, dass eine batteriebetriebene Notanlage auf jedes Schiff gehört, so wie das Wasser zum Schwimmsport.
Der Chief Steward berief sich vermutlich auf seine Berufserfahrung, als er das Gerücht in Umlauf setzte, es sei in der Geschichte der Seefahrt schon vorgekommen, dass eine ganze Besatzung wegen einer Lebensmittelvergiftung in der Koje oder am Boden lag. 
Der frischgebackene Abgänger der Nautikerschule in Hamburg und als vierter Offizier sozusagen noch ein Greenhorn im Ruderhaus der „Anunciada“, wollte unbedingt einen Teil seines Gelernten in die Tat umsetzen. Er ergriff kurzerhand die Aldislampe und begann von der Nock aus unentwegt Lichtsignale in die Richtung des manövrierunfähigen Schiffes auszusenden. Das Geklapper der Lampe hörte sich seltsam an. Ein Lebenszeichen des Angerufenen blieb jedoch aus. 
Zwischendurch waren auf der Brücke auch Sprüche unter der Gürtellinie und Sticheleien zu vernehmen, wie etwa „Möglicherweise sei die ganze Besatzung des Liners über Bord gesprungen, weil die Reederei die Heuern nicht mehr bezahlen könne“ oder „anscheinend ist dem Kapitän sein Leitfaden 'Seeschifffahrt für Ahnungslose' abhanden gekommen“.
Letztendlich musste unser Kapitän eine Entscheidung fällen. Er beauftragte den Chief Mate, ein Rettungsboot klarzumachen. Eine kleine Besatzung, bestehend aus dem Chief Mate als Kommandant, dem 2. Offizier als Steuermann, dem Chief Engineer samt seinem Stellvertreter, einem Assi aus der Maschine als Bediener des Motors, dem Chief Steward, ausgerüstet mit ein paar wichtigen Medikamenten, sowie Elektriker, Bootsmann, Zimmermann und ein paar Matrosen, sollte zum Passagierschiff übersetzen und nach dem Problem Ausschau halten. Kurz vor Abfahrt drückte der Kapitän dem Ersten noch das reedereieigene Maschinengewehr samt reichlich Munition in die Hand, weil er vermutete, auf dem Schiff könnten sich Piraten eingenistet haben    (jeder Schweizer kann vom Militärdienst her eine Waffe bedienen).

Oben:  Vorbereitungen für den Pendelverkehr
Nach dem Ablegen unseres Rettungsbootes entschwand unsere Mini-Crew ins Ungewisse. Die Sichtweite zu ihr wurde immer schwächer, und eine Funkverbidung zu ihm gab es damals noch nicht. Mit Ferngläsern konnte man jedoch erkennen, wie unsere Leute auf der bereitgestellten Gangway das Hauptdeck erklommen. Unserem Kapitän wurde immer mulmiger, weil er glaubte, Ungemach bahne sich an.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde kehrten unsere Abenteurer zurück. Sie brachten eine handgeschriebene Notiz mit, auf der der spanische Kapitän mitteilte, dass man mit über 900 Fahrgästen unterwegs von Lissabon nach Havanna sei. Der Funker sei in der vergangenen Nacht verstorben und man wisse nicht, was zu tun sei. Die beiden anderen Funker wären reine Sprechfunker und könnten die bordeigene Funkanlage nicht bedienen. Wir vermuteten, dass sie eventuell nur Schalterbeamte vor dem Funkraum waren, um ein- und ausgehende Telegramme zu verarbeiten.


 Oben: Links der Kapitän als Mannschafts-Ausbilder auf Luke 3
Gleichzeitig lieferte der Kapitän, der, wie einer unserer Matrosen berichtete, trotz seiner weissen Uniform ausgesehen haben soll wie ein Auslaufmodell, drei Telegramme an seine Reederei, die Charterfirma und den Reiseveranstalter mit, man möge diese weiterleiten. Ich meinerseits erlaubte mir, die Meldungen mit dem Vermerkt zu ergänzen, eine Rückantwort an die „Catalunya“ sei nur über Lissabon Radio/CUL zwecks Weiterleitung an die „Anunciada“ möglich. Ich wollte damit vermeiden, dass ich den ganzen Tag Tfc Lists anderer Küstenfunkstellen abhören musste.
Der QTC-Verkehr mit CUL gestaltete sich nicht ganz einfach. Immer wieder gab es Differenzen in der Wortzählung wegen sprachlichen Ungereimtheiten. Denn schliesslich ist nicht jeder Funker der spanischen und portugiesischen Sprache mächtig. Doch ich gab mich mit allen Korrekturen einverstanden, war es mir doch einerlei, wer die anfallenden Gebühren berappen musste.
Es dauerte wiederum über eine Stunde bis von der spanischen Reederei eine Antwort eintraf, die besagte, das Fahrgastschiff solle nach Ponta Delgada fahren, dort den Leichnam an Land bringen und auf einen Ersatzfunker warten. Mit der Überbringung der Aufträge von Schiff zu Schiff gab ich dem Kapitän des Spaniers den Tipp, seine zwei Funker mögen eine Funkverbindung auf 2182 kHz mit den Küstenfunkstellen Ponta Delgada/CTD, São Miguel/CUG oder mit dem nicht allzuweit entfernten Ocean Station Vessel/4YE aufnehmen. Eine sachbezogene Antwort blieb aus.
Stattdessen überhäufte der Liner mich mit einem Stapel Telegrammen von Fahrgästen, diese doch weiterzuleiten. Darauf kochte unserem Kapitän das Blut im Körper. Immer wieder wiederholte er: „Unsereins wird fast in jedem Hafen die Vollständigkeit der Besatzung und deren - wenn nötig - vorhandenen Patente überprüft. Und so ein „Spanioggel“ kann mit seinem H24-Schiff unter Mitführung eines einzigen Funkers  - vermutlich aus Spargründen - auf grosse Fahrt gehen. Ich werde dieser Gesellschaft noch die richtige Salbe anmachen; so einen Kapitän kann man bestenfalls als Poller auf einer Pier gebrauchen, ja keine Bewegung!“
In Ergänzung dazu berichtete unser Chief Mate, die Exkursion sei ohnehin eine einzige Kakofonie gewesen, weil die Schiffsleitung des Passagierschiffes nicht zu überreden war, sich mit einem eigenen Boot am Pendelverkehr zu beteiligen.

Oben:  Position des OSV Atlantik
Mit der letzten Überfahrt liess ich dem Kapitän der „Catalunya“ alle weggeschickten Telegramme mitsamt der Abrechnung in Goldfranken überbringen, damit er sie seinen Fahrgästen in Rechnung stellen konnte. Zusätzlich legte ich eine Abschrift des aktuellsten NSS WX-Bulletins bei. Als Dank für unsere Bemühungen schenkte er uns zwei Kartons zu je 24 Flaschen des Edel-Cognacs „Fundador“. Weil wir eine Besatzung von 48 Mann mitführten, verteilte unser Kapitän den Sprit so, dass jeder eine Flasche erhielt.
Als junger Funker neben der 
Ehefrau des Kapitäns
Mein „Lohn“ ziert noch heute 
als mindestens 55 Jahre altes 
Erinnerungsstück meine Hausbar.
Drei Arbeitsschichten: Als Brücken-
wache, im Pendelverkehr und 
Schiffsunterhalt (hier am Schornstein)
Gegen Abend des ereignisreichen Tages verliessen wir unseren temporären „Parkplatz“ in Richtung Jacksonville. So wie wir noch schwach erkennen konnten, setzte auch das spanische Fahrgastschiff seine Reise fort, hörten aber nie mehr was von ihm. Bei der Küstenfunkstelle CUL hatte ich mich ohnehin bereits abgemeldet, so dass es mir erspart blieb, deren Tfc List weiter zu beobachten.
Doch damit war der unfreiwillige Arbeitstag noch nicht endgültig verarbeitet. Auf unserer Weiterfahrt klapperte des Captain's Schreibmaschine von morgens bis abends. In seinem für die Reederei in Genf bestimmten „Reportage de voyage“ schilderte er auf Französisch, warum wir mit einem Tag Verspätung die Küste der USA erreichen würden. 
Oder war es die Angst des Spaniers vor den eigenen Passagieren, die mutmassen könnten, die eigene Besatzung habe sich aus dem Staub machen wollen? „Nein, diese Suppe ess' ich nicht, nein“; ich komme mir vor wie ein Türsteher in der Antarktis!“ wetterte unser Schiffsführer. 
Es war nicht die angeforderte Hilfeleistung von einem vorbeifahrenden Schiff, die ihn verärgerte, sondern vielmehr, dass die Besatzung des Spaniers zu bequem war, einen Pendelverkehr zu unserem Schiff aufrecht zu erhalten, obschon am Fahrgastschiff Rettungsboote wie Trauben „hingen“. Viel schlimmer wertete er, dass die spanische Reederei ein Fahrgastschiff mit nur einem einzigen Funker auf grosse Fahrt geschickt hatte.
Mein Vergnügen endete darin dass ich - zusammen mit dem verdienstvollen Kapitän - aus Sicht des HBDM-Funkbetriebes einen ausführlichen Bericht, enthaltend eine Anzeige in englischer Sprache wegen unzureichender Minimalbesatzung, zu Händen des „Lloyd’s Register of Shipping“ in London, zusammenbasteln musste. Wir wollten damit vermeiden, dass der Kapitän des spanischen Passagierschiffes - einen Taschenspieltrick anwendend - sich wohl fühlte wie ein Käfer in einer Knolle Pferdemist, um sich von allen Seiten über seine Unzulänglichkeiten feiern zu lassen.
Immerhin hatte der fahrtlose Tag auch seine positiven Seiten. Im Tagebuch der Brücke liess unser Schiffsführer nebst der Hilfeleistung auch einen Vermerk eintragen, dass man den Shuttle-Service als Bootsmanöver mit jedes Mal anderer Besatzung hatte durchführen können.
Aus dem Vorfall konnte ich als blutjunger FO viel lernen. Vor allem aber: Ist Arbeit in Sicht, sollte man stets zur Seite stehen, um den Arbeitswilligen nicht den Weg zu versperren.

Bildnachweis:
Alle Fotos (10) Urheber gem. §7 Urh.G. (© by:): Jakob Rösti, CH (Mit freundl. Genehmigung im November 2014)
Grafiken (2) Quelle: Broschüren der U.S. Coast Guard  (Alle Veröffentlichungen der U.S.C.G. sind "gemeinfrei")

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Version: 11-Dec-14 / HBu