Der Friedhof der stählernen Riesen
Aus "General-Anzeiger" Bonn  Ausgabe 27./28.02.1999
Autor Dierk Jensen                                Abschrift: Rolf Marschner

Sitalputt in Bangladesh:
Auf einer der größten Schiffsabwrackstellen der Welt arbeiten 20 000 Menschen Tag und Nacht für wenig Geld.

Das Telefon wird nie mehr klingeln. Es sei denn, der Elektrohöker Mohammed Meah findet tatsächlich noch einen Käufer für das Modell, das einst auf der Brücke eines Ozeanriesen seine Dienste Tat. Die abgegriffene Wählscheibe erzählt eine lange Geschichte, die nur in paar Kilometer weiter, am Strand von Sitalputt, ein schnelles Ende fand. Tausende Läden wie der von Meah säumen die Straße von Chittagong bis zur Schiffsabwrackstelle Sitalputt, die neben dem pakistanischen Gadani und dem indischen Alang zu den größten der Welt zählt. Das Wrackvolumen wird hier auf rund vier Millionen Tonnen pro Jahr geschätzt.
Überall sind auf dem Weg zum Schiffsfriedhof am Golf von Bengalen die sterblichen Überreste der zerteilten Meeresgiganten zu sehen: Haushohe Generatoren, in langen Reihen aufgestellte Toiletten, Rohre in jeder Größe und Form, Möbel, Navigationsgeräte, Ketten und gestapelte Eisenplatten, so weit das Auge reicht.
Der martialische Arbeitsplatz von rund 20 000 Menschen erstreckt sich über sieben Kilometer entlang der Küste. Tanker, Frachtschiffe, Passagierdampfer und Kühlschiffe sind hier dicht nebeneinander auf den modrigen Grund gefahren worden und liegen bei Niedrigwasser trocken. Manche sind noch komplett, andere sind bereits zweigeteilt, geviertelt, geachtelt. In Sitalputt wird nie gerastet. Es dröhnt und hämmert sieben Tage die Woche. Immer rund um die Uhr, nachts bei gespenstischem Flutlicht. Rasselnde Ketten, aufheulende Motoren und angsteinflößendes Quietschen der Stahlwanten sind hier allgegenwärtig. Die J.L. Enterprise ist eine von 35 Gesellschaften die vor der Küste Chittagongs seit Mitte der 70er Jahre dem rauhen Abwrackgewerbe nachgehen. 

Der 500köpfige Arbeitstrupp dieser Firma macht sich gerade über den chinesischen Frachter "Suxiang" her. Aus dem Innern der "Suxiang" zischen Schneidbrenner und dröhnen Trennflexe. "Heja, Heja!" Bei sengender Mittagshitze schuften die Abwracker, ungelernte Kräfte, die aus ganz Bangladesh hierherkommen. Männer, Jugendliche und auch Kinder. Wer eine kleine Pause einlegt, wird sofort von den Vorarbeitern harsch angebrüllt. In 20er-Gruppen ziehen die Männer und Jungen an schweren Eisenketten, die sie um die weiter draußen zerlegten Schiffsteile legen und verhaken. Mächtige motorgetriebene Winden schleppen den Schrott schließlich an Land.
Alle Arbeiter sind barfuß. Sie stehen knöcheltief in dem von Eisenspänen, Öl und Rost geschwängerten Matsch. Ihre Arbeitsmontur beschränkt sich auf kurzärmliche T-shirts und lunghis, die landesüblichen, um die Hüfte gebundenen Hosentücher. Keiner trägt Handschuhe, geschweige denn einen Helm. Dabei ist ihre Knochenarbeit lebensgefährlich, jede europäische Berufsgenossenschaft würde den Betrieb sofort schließen lassen. "Accident means dead" (ein Unfall bedeutet Tod), meint denn auch Amrzad Hossain von der J.L. Enterprise. Lapidar fügt er an: "Die Leute, denen so etwas passiert, sind nicht vorsichtig genug."
Kinder schleppen den Schrott an Land
Die Ozeanriesen beschaffen sich die Abwracker von Maklern, Handelshäusern und Agenturen aus aller Welt. London fungiert als eine der Schaltzentralen des "Riesengeschäftes", bei dem jährlich, so Experten, rund 15 Millionen Tonnen Schiff abgewrackt werden. Über die Preise mag der Geschäftsmann Hossain zuerst nichts sagen. "Bei 200 Dollar pro Tonne liegt der Preis im Durchschnitt", ringt er sich schließlich nur ungern zu einer Summe durch. Ebensowenig Konkretes erfährt man von hiesigen Firmen, die sich auf den Handel und das Makeln von abzuwrackenden Schiffen spezialisiert haben. "Die Konditionen unterliegen einem ständigen Wandel, da kann man von Durchschnittspreisen nicht reden", hält sich ein Mitarbeiter der Hamburger Firma Eckhardt-Marine bedeckt. Die Firma All Ship wollte am Telefon keinerlei Auskunft zum Geschäft geben.
Indes sind Reeder und Schiffseigner heilfroh, daß sie ihre alternden Pötte, die normale Lebensdauer liegt zwischen 20 und 25 Jahren, überhaupt loswerden." Nach 20 Jahren müssen die Reeder für ihre Schiffe eine Extraversicherung bezahlen, die sie häufig dazu veranlaßt, das Schiff zu verschrotten", weiß Herr Zilm vom Schiffsklassifizierer Germanischer Lloyd. "Was danach passiert, interessiert uns nicht."
Das Abwrackgeschäft mit den großen Seeschiffen ist in den meisten Ländern der westlichen Welt schon seit einigen Jahrzehnten gänzlich verschwunden und nach China, Indien, Pakistan, Bangladesh und in die Türkei abgewandert. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Arbeit kostet in diesen Ländern im Verhältnis zum europäischen Lohnniveau so gut wie nichts, und Auflagen zur Sicherheit der Arbeiten werden allzu oft ignoriert. Hinzu kommt, daß es auf den großen Abwrackstellen in Asien fast überhaupt keine Umweltauflagen gibt. Insgesamt gesehen also "optimale" Bedingungen für die internationale Schiffahrt, also besteht auch wenig Interesse daran, die Zustände auf der Abwrackanlage kritisch in Frage zu stellen.
Dabei sind es Tagelöhner wie die von Sitalputt, die mit ihrem kärglichen Tagessatz von 49-90 Taka, umgerechnet ein Dollar, das ganze erst ermöglichen. Ein Lohn, der auch in einem Land wie Bangladesh nur im Mittelmaß liegt. Dafür riskieren diese Männer fast täglich ihr Leben, schneiden sich Füße und Hände auf und werden teilweise wie Sklaven behandelt. Doch haben viele der ungelernten Männer keine andere Wahl, für sie geht es häufig ums nackte Überleben. Im übrigen läuft das Geschäft das Geschäft für solche Firmen wie J.L. Enterprise momentan durchaus gut, weil der Eisenschrott in einer Gießerei verschmolzen und zu Armiereisen verarbeitet wird. "Wir machen Gewinn", freut sich Hossain über die profitable Weiterverarbeitung. Angesichts des Baubooms in den Städten Bangladeshs kann sich die J.L. Enterprise über mangelnde Nachfrage nach diesem Baumaterial nicht beklagen.
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