Das letzte Morsesignal ist längst gesendet.
Ende des Jahres schloss Norddeich Radio vollständig
Von Christian Rickens und Wolfgang Uchatius - Abschrift: Rolf Marschner, DL9CM

Ein Nachruf
von Christian Rickens und Wolfgang Uchatius

Die Küstenfunkstation Norddeich Radio steht dort, wo Deutschland endet: Gleich hinterm Deich, in Utlandshörn, wo das Land flacher ist als das Meer und der Nordwest die Bäume krümmt. Graue Metallmasten ragen hier ein paar Dutzend Meter in die Höhe und verbinden die Erde mit dem Himmel. Am Fuß der Masten stehen zwei Häuser von der Art, die man Zweckbauten nennt; ringsherum grasen Kühe. Jahrzehntelang war dies die Brücke zwischen dem Land und allen Meeren. Jeden Tag in jedem Jahr, 24 Stunden in drei Schichten, saßen die Funker an ihren Geräten und sprachen mit der Welt. Sie empfingen SOS-Rufe aus der deutschen Bucht, leiteten Telegramme vom einsamen bayerischen Seemann an sein Mädchen in Ruhpolding weiter, versandten ärztlichen Rat für den malariakranken Smutje im Golf von Bengalen und neue Order vom Reeder in Hamburg. Dank Norddeich Radio begann für Seeleute rund um den Globus die Heimat in Ostfriesland.

Am 31. Dezember 1998 wird Norddeich Radio abgeschaltet, die Funkmasten werden abgerissen. 36 000 Kilometer über dem Meer hängen heute Satelliten am Himmel und besorgen das Vermitteln. Die Welt braucht keine Spezialisten mehr zum Funken. Die Nummer der vier Inmarsat-Satelliten steht in jedem Telefonbuch, der Pazifik hat die Vorwahl 00872. Technischer Fortschritt ist der falsche Ausdruck. Die Technik schreitet nicht, sie springt. Manchmal im Zickzack und manchmal geradeaus. Jetzt ist sie so weit gesprungen, daß Funkmasten zu Alteisen werden. Utlandshörn, ein Stück Land, das die Friesen erst im vergangenen Jahrhundert Meter um Meter und Jahr um Jahr der Nordsee abgerungen haben, wird wieder zu einem vergessenen Flecken hinter dem Deich, der er vor Heinrich Hertz war.

1888 setzte jener Hamburger Physiker zwei Metallkugeln unter Strom. Er erhöht die Spannung, eine Funke sprang von der einen zur anderen Kugel und erzeugte elektromagnetische Strahlen. Hertz hatte die Radiowelle entdeckt. Der Italiener Guglielmo Marconi entwickelte aus dieser Entdeckung die drahtlose Telegrafie. Die Technik sprang wie zuvor der Funken. Unsichtbare Wellen schwangen seither über den sichtbaren Teil des Meeres und trugen Morsesignale, den langen und den kurzen Ton, durch die Atmosphäre. Die Kommunikation auf See war nicht mehr auf die Sichtweite begrenzt - hinter dem Horizont ging es weiter.

Langer Ton, kurzer Ton, Stromstoß, Strompause. Ein Rhythmus, der ein Leben prägen kann, ein Funkerleben. So wie das von Wolfgang Hellriegel, 56 Jahre alt, Seefunker 1. Klasse, seit Januar 1970 bei Norddeich Radio. Einen wie Hellriegel hat man vor Augen, wenn man das Wort Seebär hört: einen vollbärtigen, dunkelblonden Hünen mit breitem Lachen und tiefer Stimme. In der Bremer Seefahrtsschule lernte er das Morsen. Zur Übung lasen die Schüler im Morsealphabet aus der Bildzeitung vor, ein dit steht für den kurzen Stromstoß, ein dah für den langen. Dit dah, dit, dit, ellenlange Silbenketten in einem Affentempo. Hellriegel schafft rund 160 Buchstaben in der Minute, Morsesignale versteht er wie gesprochene Wörter.

Fünf Jahre fuhr er zur See. Als sein Sohn den Vater so vermißte, daß das Kind auf dem Spielplatz zu fremden Männern rannte, merkte Hellriegel: Es ist Zeit abzumustern. Er ging zu Norddeich Radio, dem Sammelpunkt für alle, die vom Funken nicht lassen können. Manche machten nach der Schicht weiter, als Amateurfunker auf dem eigenen Dachboden zu Hause.

Was fesselt einen so am Funken? Während des Vietnamkrieges, erzählt Hellriegel als Antwort, lag ein Lazarettschiff vor Indochina und morste über Kurzwelle Medikamentenlisten. Strom ein, Strom aus, langer Ton, kurzer Ton, zwei-, dreihundert lateinische Begriffe, die keiner der Funker je gehört hatte, gemishct mit anderen Funksignalen und dem Rauschen der Atmosphäre. Da kann man sich nichts erschließen, da muß jeder Buchstabe sitzen, Silbe für Silbe, Wort für Wort. Minuten, in denen nichts anderes im Gehirn Platz hat. Wer das Telegramm angenommen hat, fällt hinterher erschöpft in den Stuhl zurück, und die Kollegen klatschen Applaus.

Kaiserlicher Zorn war die Ursache dafür, daß die Funktechnik nach Ostfriesland kam. Im Jahr 1905 wollte Wilhelm II. auf einer Mittelmeerfahrt ein Telegramm ins Reich absetzen. Sein Schiff, der Hapag-Dampfer Hamburg, war mit einer deutschen Funkanlage ausgerüstet. Doch Anfang des Jahrhunderts wurden die meisten Funkstationen vom geschäftstüchtigen Marconi betrieben. Auf Anweisung des Chefs persönlich mußte sich die Marconi-Station auf Borkum weigern, die von einem fremden Fabrikat aus gesendeten Worte anzunehmen. Wilhelm II. war düpiert und befahl den Bau einer reichseigenen deutschen Küstenfunkstation. Für 16.422.60 Reichsmark erwarb die Post in der Nähe des Ortes Norddeich drei Hektar sumpfige Wiese. Dort nahm Norddeich Radio am 1. Juli 1907 den Betrieb auf. Die ersten fünf Funker mußten täglich ein paar Dutzend Eimer Wasser aus dem Funkraum schöpfen, so feucht war der Boden. Per Post kamen die Telegramme, per Morsetaste wurden sie an die Schiffe vermittelt. Durch Luft, Antennen und Kopfhörer kamen Morsezeichen zurück, wurden in Telegramme übersetzt und gingen wieder an die Post.

Weit kam die Technik in diesen ersten Jahren noch nicht. Beim Funken krachte und knallte es über den Deich, als wolle Norddeich Radio den Mond erreichen. Doch die Signale langten kaum 2000 Kilometer weit. Dann sprang die Technik weiter. Die Firma Telefunken entwickelte den Löschfunkensender, es folgten Röhrensender und Transistorentechnik. Norddeich Radio, inzwischen einige Kilometer weiter nach Utlandshörn umgezogen, begann Funktelefonate zu vermitteln - mit Anmeldung, Wartezeit und Störgeräuschen. Zuletzt kam das Senden und Empfangen von Fernschreiben hinzu, getestet wurde das neue Verfahren zuerst 1971 in der Kommunikation mit dem Atomschiff Otto Hahn. Damals dachte man so: In ein paar Jahrzehnten durchpflügen die Schiffe per Atomkraft den Ozean, aber sie kommunizieren weiter über Küstenfunkstationen. Heute fahren Schiffe noch immer mit Dieselöl, und Norddeich Radio wird geschlossen.

Anfang der 80er Jahre hatte Norddeich Radio seine beste Zeit. In Utlandshörn funkten 260 Leute, so viel wie nie zuvor und danach. Während draußen die schwarzweißen Kühe grasten, drehten die Funker an Frequenzrädern und wechselten ihre Kanäle. Die Hörer auf dem Kopf, lauschten und horchten sie, hatten zig Signale gleichzeitig im Ohr, filterten das Gemisch aus Tönen verschiedener Länge, Höhe und Lautstärke. Ein guter Funker muß selektiv hören können, sagt Wolfgang Hellriegel. Jeden Tag vermittelte Norddeich Radio rund 700 Telegramme, 500 Gespräche und 60 Fernschreiben. Zu Weihnachten und Muttertag, wenn die Seeleute sentimental werden, nachmal so viel. Kürzel sorgten dann dafür, daß Norddeich Radio Arbeit sparte und die Seeleute Geld. Wem die Heuer für eigene Ideen zu schade war, der hielt sich an billige vorformulierte Telegramme und funkte nur eine Kennzahl. Die 14 stand für: Fern der Heimat, doch in Gedanken daheim, wünsche ich Euch fröhliche Weihnachten. Jeden Dezember produzierte der Norddeutsche Rundfunk die Sendung Gruß an Bord mit telefonischen Botschaften und Musikwünschen für Seeleute. Norddeich Radio verbreitete die Sendung weltweit. Für Radiohörer in Norddeutschland gehört Gruß an Bord zur gemeinsamen Weihnachtserinnerung wie der Kirchgang.

Auch an den Festtagen brach das Sprach- und Tongewirr auf bestimmten Frequenzen alle halbe Stunde für drei Minuten ab. Funkstille - damit auch Schiffe mit schwachen Sendern Notrufe absetzen konnten. Die deutsche Bucht ist der meistbefahrene Seeweg der Welt. Im Sturm verlieren Schiffe ihre Ladung, kentern, Männer gehen über Bord. An der Küste werden Wanderer im Watt von der Flut überrascht. Zu ihrem Glück hat der Wattführer ein Funkgerät dabei.  Norddeich Radio empfängt den Hilferuf und alarmiert den Seerettungsdienst.

 Norddeich Radio gehörte zu dieser Zeit zur Bundespost, hatte aber kein Monopol auf die Vermittlung von Gesprächen zwischen See und Land. Jedes Schiff konnte seine Funknachrichten auch über Scheveningen Radio absetzen oder über Portishead Radio, Athen Radio, Bern Radio und ein paar Ditzend andere Küstenfunkstellen. Die Station in Utlandshörn mußte sich im globalen Wettbewerb behaupten, lange bevor dieser Begriff in Mode kam. Es gelang, Norddeich Radio wurde zu einer der wichtigsten Küstenfunkstellen der Welt. Sie stand für Zuverlässigkeit, für ständige Erreichbarkeit. Selbst wenn ein Funker mal auf Toilette mußte, wurde er von einem Ersatzmann abgelöst, sagt Hellriegel.

Im Jahr 1962 trug eine amerikanische Rakete den Telstar in den Himmel, den ersten Satelliten, der Radiowellen nicht nur empfangen, sondern auch verstärken konnte. Einige Jahre später saß Wolfgang Hellriegel vor dem Fernseher und sah ein Fußballspiel, das per Satellit übertragen wurde. Da wußte ich, diese Technik wird eines Tages das Ende von Norddeich Radio sein.

Manchmal aber hindern Gesetze die Technik am Sprung: Die Mitgliedsstaaten der International Maritime Organisation (IMO) schrieben vor, daß auf jedem Schiff mit mehr als 1 600 Bruttoregistertonnen ein Funker mitfahren mußte. Funker plus Satellitenfunkanlage war den meisten Reedern zu teuer, also beließen sie es bei der alten Technik. Das änderte sich erst 1992. Seitdem lassen die IMO-Staaten den Reedern die Wahl: Wer sein Schiff mit einer Satellitenfunkanlage oder mit einem modernen Kurzwellengerät mit Fernschreiber ausstattet, braucht keinen Morsefunker mehr an Bord zu nehmen. Fast alle Reeder entschieden sich für die Satellitenanlage. Jeder aus der Mannschaft kann sie bedienen, Funken wird so einfach wie telefonieren. SOS-Rufe gehen direkt an den Seenotrettungsdienst. In die Funkerkammern auf den Schiffen kamen die Besen.
Mitte der 90er Jahre saßen die Funker von Norddeich Radio an ihren Empfängern und horchten weiter in die Welt hinaus. Doch die Welt sprach nicht mehr mit ihnen. Ich saß nachts im Funkraum, und die Kurzwelle war tot, erinnert sich Hellriegel. Zum zweiten Mal wurde er Zeuge, wie die Technik ein Stück weitersprang. Beim ersten Mal fuhr Hellriegel als Funkoffizier auf der Europa, einem holzgetäfelten Passagierschiff des Norddeutschen Lloyd, auf der Strecke Bremerhaven - New York. Seit dem Beginn der 60er Jahre flogen düsen-getriebene Boeing 707 in acht Stunden in die Neue Welt. Die Europa brauchte sechs Tage. Im Herbst 1967 machte sie ihre letzte Fahrt im Liniendienst über den Nordatlantik.

So wie das Passagierschiff dem Düsenflugzeug unterlag, mußte sich  Norddeich Radio der Satellitentechnik geschlagen geben. Was blieb, war die Stillegung. Ende 1995 wurde in Utlandshörn als erstes die Seenotwache auf der Mittelwelle abgeschafft, im Jahr darauf dann auch die Morsetelegrafie und die Vermittlung von Telefongesprächen über Kurzwelle und Grenzwelle zwischen Mittel- und Kurzwelle, das Herz von Norddeich Radio, wie Hellriegel sagt. Die letzte von  Norddeich Radio in die Welt gemorste Nachricht lautete:

-...    -.--     .             -...     -.--     .
In Worten:  Bye - bye

 Heute erinnert nur ein Raum in den beiden Zweckbauten hinter dem Deich an die ursprüngliche Aufgabe von Norddeich Radio . Im Erdgeschoß arbeiten drei Funker pro Schicht in der UKW-Station. Sie vermitteln Telefonate mit Schiffen, die in Küstennähe unterwegs sind. Auch hier kommen immer weniger Gesprächswünsche an. Wo die Ultrakurzwelle hinreicht, kann man meist auch mit einem gewöhnlichen Handy anrufen. Zum Jahresende stellt die UKW-Station als letztes den Betrieb ein. Norddeich Radio sendet nicht mehr.
Wo die Technik weiterspringt, bleiben Menschen zurück. 86 Mitarbeiter hat Norddeich Radio heute noch. Was wird aus ihnen? Utlandshörn gehört zur Stadt Norden. Im Winter, wenn die letzten Touristen abgereist sind, liegt die Arbeitslosigkeit hier bei über 20 Prozent. Der einst größte Betrieb am Ort, die Schnapsbrennerei Dornkaat, hat vor kurzem ebenfalls dichtgemacht.

In den Gängen der Küstenfunkstation liegen jetzt anthrazitfarbene Teppichfliesen über dem knarrenden Dielenboden. Die neuen Kunststoffmöbel sind in grau und magenta gehalten. Corporate Identity hält Einzug in Utlandshörn. Aus der Erbmasse der Bundespost ist Norddeich Radio an die Telekom gefallen. Die ehemaligen Funker werden in Zukunft Kabelfernsehkunden in einem Call Center beraten. Sie bauen eine bundesweite Zentrale für den Hausnotruf auf, mit dem pflegebedürftige Menschen per Knopfdruck Hilfe alarmieren können. Sie speisen Textbotschaften in die Displays der Radios beim neuen Digital Audio Broadcasting ein. Die Mitarbeiter sind glücklich, daß niemand entlassen wird.

Mit der Funkerei hat das nichts mehr zu tun, den Namen Norddeich Radio wird es nächstes Jahr nicht mehr geben. Wolfgang Hellriegel verabschiedet sich zum Jahresende in den Vorruhestand. Arbeitsplätze sind knapp hier in der Gegend, da ist es gut, wenn ich den jüngeren Platz mache, sagt er und macht eine kurze Pause. Außerdem bin ich Funker.


Anmerkung:
Christian Rickens, Jahrgang 1971, wuchs in Brunsbüttel auf, Wolfgang Uchatius, 1970 geboren, stammt aus Oberbayern. 
Soeben haben die Absolventen der Deutschen Journalistenschule, München, eine Journalistenbüro in Berlin eröffnet.
Aus mare No. 11, Dezember 1998/Januar 1999, Sonderbeilage
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Version 11-Oct-99 / HBu